Die Magnolien und der Wahnsinn

Die Magnolien und der Wahnsinn

ICH BIN BESESSEN VON BLÜHENDEN MAGNOLIEN

Jetzt ist es endlich wieder soweit, und bei mir spielt sich das jährliche Ritual ab:
Sobald die ersten warmen, sonnigen Tage da sind, zieht es mich zu den Magnolien hin, um nachzusehen, ob die Knospen sich bald öffnen. Ich liebe «den Moment davor», wenn die Blüten noch geschützt in den flaumigen Schalen liegen, aber das zarte Roséweiss bereits durchschimmern lassen.
Mein Zustand lässt sich am besten mit «frisch verliebt und unruhig auf das Wiedersehen mit dem Liebsten wartend» vergleichen. In den kommenden Tagen – mit viel Wetterglück sind es manchmal viele Tage – richte ich meine Arbeitswege, Boten- und Spaziergänge nach den Magnolien.
Ich weiss genau, welcher Baum in der Stadt als Erster blüht und wo die Sonne die Blüten erst spät welken lässt.
Meine Wege werden immer exzentrischer und mein Zeitmanagement kommt total durcheinander.
Stehe ich endlich staunend vor einer blühenden Magnolie, werde ich ruhig.
Unter der Ruhe und Freude über den umwerfenden Anblick dieses Prachtbaumes macht sich leise eine vertraute Traurigkeit bemerkbar.
Mit den Jahren ist mein Ritual immer abergläubischer und meine Hingabe an die Schönheit dieser besonderen Bäume immer absoluter geworden – wo meine Anbetung noch hinführen wird, wissen nur die Götter.

 

DAS ALTER DER SCHÖNHEIT

Die Magnolien wachsen sehr langsam, und sie werden sehr alt.
Ihre Art existiert seit über 100 Millionen Jahren auf der Erde.
Kann gut sein, dass diese Vorfahrin aller Blütenpflanzen bereits von den Dinosauriern angebetet wurde.
Damals gab es noch keine Bienen, darum wurde und wird die Magnolie bis heute von pollenfressenden Käfern bestäubt.
Sie ist eine zähe Überlebenskünstlerin, die allen geologischen und klimatischen Widrigkeiten trotzt.
Nur den hiesigen Spätfrost, den mag sie nicht…

MEINE MUTTER, DIE MAGNOLIE

In den Wirren meiner Pubertätsjahre stand ich im Frühling oft in der Dämmerung auf dem Balkon meines Zimmers und blickte auf die schimmernden Blüten unseres riesigen Magnolienbaumes, deren sanfte Schönheit mich tröstete und für eine Weile von meinen Sorgen erlöste.
Er war so alt wie das Haus, welches meine drei Schwestern und ich mit unserer Mutter und einigen Tieren bewohnten.
Der Frühling war bei uns meistens eine schlimme Zeit.
Unsere Mutter war manisch-depressiv; heute heisst das bipolar.
Ihre Erkrankung brach Mitte der 70er Jahre aus, meine jüngste Schwester war zwei Jahre alt.
Kürzlich sah ich beim Durchqueren der coronabedingt leeren Zürcher Bahnhofshalle einen Informationsstand eines Vereins für psychisch Kranke und deren Angehörige, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann.
Heute – 45 Jahre nach Ausbruch dieser für die Betroffenen und deren familiären Umfeld ungeheuer belastenden Krankheit – würde unsere Mutter weniger stigmatisiert und ihr Zustand weniger tabuisiert werden als damals.
So hoffe ich zumindest.
Damals wurde nur hinter vorgehaltener Hand über Depressionen & Co. gesprochen.
Ein Aufenthalt in einer Psychiatrie – oder noch schlimmer in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie – blieb für immer an dem betroffenen Menschen kleben.

Heute sind diese Erkrankungen kein Ausnahmephänomen mehr, wie wir alle wissen.
Ist die Hürde, eine Depression, Bulimie, Drogensucht oder ein Borderline-Syndrom zu thematisieren, weniger hoch als 1976, dem Jahr als bei meiner Mutter der erste depressive Schub ausbrach?
Sie stand vor der Waschmaschine im Ferienhaus der Schwiegereltern und war nicht mehr in der Lage, die Alltagsroutine einer Wäsche zu bewältigen, weil die schwarze Welle über sie hereinbrach.
Die Schnelldiagnose «Burn-out» geht uns leichter über die Lippen und muss inzwischen für Manches herhalten, was auszusprechen zu qualvoll wäre.
Fair enough.

Alles ist besser, als das verklemmte Schweigen von damals.
Oder täusche ich mich? Lithium ist bei Bipolarer Erkrankung immer noch State of the Art bei der medikamentösen Behandlung manisch-depressiver Phasen und hilft die Kurven abzuflachen. Ein mir nahestehender Mensch aus meinem näheren Umfeld kann so seinem Beruf nachgehen und ein liebevoller Ehemann und Vater sein.
Es steht kein rosafarbener Elefant im Zimmer, wenn man mit ihm zusammen ist, und die Frage nach seinem Befinden löst keine Beklemmung aus.

UPPERS AND DOWNERS

Aber wieviele Menschen schlucken Tabletten ohne eine eigentliche Diagnose?
Einfach weil sie angstfreie und nie ermüdende High Performers bleiben wollen. Bleiben müssen.
Wann fällt das Diktat der allzeit bereiten, absoluten Belastbarkeit in unserer hochtourigen Leistungsgesellschaft?
Trägt die jetzige Zeit der Pandemie – deren Ende wir noch nicht kennen – dazu bei, dass wir mutiger mit den eigenen psychischen Grenzen und mit Erschöpfung umgehen lernen?
Verständnisvoller denen gegenüber werden, die nicht 150 % mit dem heutigen Tempo in unserer Arbeitswelt mithalten können, mehr Ruhe und Zeit brauchen als Andere?
Ich hoffe es für uns alle.

NETZWERK UND SORGENTELEFON

Damals wurde der psychisch kranke Mensch behandelt – dem seelischen Zustand der Ehepartner und Kinder hingegen wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Hat sich das geändert? Es gibt heute Anlaufstellen wie zum Beispiel der Verein Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (www.angehoerige.ch) oder die Pro Juventute. Diese bietet Kindern und Jugendlichen das Sorgentelefon an (www.projuventute.ch).

IMMER IM FRÜHLING

Mir gab damals der Anblick der blühenden Magnolie Kraft und Ruhe.
Heute besuche ich sie im Frühling, diese stolzen Resilienzköniginnen und bedanke mich bei ihnen für die jährliche Dosis Lebensfreude.

Ich bin in Bern aufgewachsen, meine Eltern waren Basler. Das heisst, mein Vater war Basler, meine Mutter stammte aus einem italienischen Elternhaus in Basel – eine grosse Familie mit multikulturellem, musischem Import/Export-Hintergrund.
Kindheit und 80er Jahre Jugend in Bern – die Freundschaften von damals sind geblieben.
Mit zwanzig ging ich in den hohen Norden nach Hamburg auf die Schauspielakademie.
Danach Theaterleben mit allem Drum&Dran in verschiedenen deutschen Städten.
2001 kehrte ich in die Schweiz zurück und lebe seither in Zürich.
Heimat sind mir die Menschen meines Lebens.
Ich spiele Theater, inszeniere, moderiere, spreche, singe, organisiere kulturelle Salons und trete mit meinem Soloabend "Tumulte blonde - ein fast klassischer Diseusenabend" auf.
Ich lebe in einer langjährigen Partnerschaft und habe eine 13-jährige Tochter.
Pläne schmiede ich selten und Entscheidungen treffe ich schnell.
Mein Leben ist immer für eine Überraschung gut.

Cécile Dünner sagt:

Ein sehr berührender Beitrag liebe Rebekka. ❤️👍

Rebekka Burckhardt sagt:

Danke, Cécile!

Peter Bäumler sagt:

Liebe Rebekka

Vielen herzlichen Dank für diesen berührenden und ermutigenden Text. Der liebe Familienvater hat mich darauf aufmerksam gemacht. Und auf das Magazin somit. Grossartig.

Geniess den Frühling,
Peter

Rebekka Burckhardt sagt:

Lieber Peter
so, schön – danke!!
herzlich
Rebekka

Martin Pauli sagt:

Liebe Claudia, vielen Dank, dass Du für dieses Thema öffentlich so behutsame und eindrückliche Worte und Bilder gefunden hast. Liebe Grüsse Martin

Rebekka Burckhardt sagt:

Lieber Martin – so schön, wiedermal meinen ersten Vornamen zu lesen:))
danke für Dein Feedback, es freut mich sehr.
ja, das Thema ist ein weites Feld..
herzlich
Claudia Rebekka

Simone sagt:

Danke für diesen Beitrag! Auch ich liebe Magnolien, aus ähnlichen Gründen wie du. Sie blühen so tapfer und schön und liegen doch bald am Boden. Meine Mutter war auch so.

Alles Gute!

Liebe Simone
vielen Dank für Deine Nachricht.
Ja, sie verschwenden sich, jedes Jahr, die Magnolien…
Unsere Erinnerungen mögen traurig sein, aber die Magnolie erblüht immer wieder aufs Neue, als wär nix gewesen…
Auf unsere Mütter!
herzlich
Rebekka

Nadine sagt:

Liebe Rebekka, danke für den eindrucksvollen Beitrag – ich erinnere mich an einen gemeinsamen Spaziergang im Frühling vorbei am wunderbar blühenden Magnolienbaum vor der Kirche beim Stauffacher. Hätte ich damals gewusst, was Magnolienbäume für dich bedeuten…. Herzlich, Nadine H (wieder in Bern)

Liebe Nadine
ja, die Magnolie vor dem Stauffacher!!!
Dieser Spaziergang ist aber wirklich lange her….
Gemmer mal an der schönen schönen Aare na, sobald die Temperaturen wieder steigen?
Grüsse nach Bern
Rebekka

Anita Berchtold sagt:

Meine Liebe, was für ein wunderbarer Beitrag. Klar, stark und zart – wie die Magnolie. Sei umarmt. Anita

merci, liebe Anita.
Bis bald, gäu!

Kathrin sagt:

Toller Beitrag liebe Rebekka… sehr eindrücklich ❤️

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