Wer war Rolf Grauhan? Eine Reise in die Vergangenheit.

Wer war Rolf Grauhan? Eine Reise in die Vergangenheit.

In der Lebensmitte stellt sich für viele von uns die Frage, welchen Sinn wir unserem Leben in den nächsten Jahren geben wollen. Wie wir leben wollen. Wer wir sein wollen. Damit einher gehen Fragen nach der eigenen Vergangenheit: Wie bin ich geworden, wer ich bin? Wer und was hat mich beeinflusst, meine Identität geprägt? Welche offenen Lebensthemen trage ich seit Jahren mit mir rum? Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit kann helfen, uns selbst und unsere Biografie besser zu verstehen. Um daraus Impulse zu gewinnen für die Gestaltung unseres weiteren Lebens. Lest hier die Geschichte meiner Freundin Kirsten:

«Ich habe mich entschlossen, mich noch einmal mit meinem Vater zu beschäftigen.» Kirstens Ankündigung an unserem alljährlichen Fünf-Freundinnen-Wochenende liess uns alle überrascht aufhorchen. Wir wussten, dass Kirstens Vater Suizid begangen hatte, als sie 16 war, und wir wussten auch, dass sie daraufhin recht schnell in die Welt hinausgezogen war, um das traumatische Erlebnis hinter sich zu lassen. Kirsten hatte uns dies zu Beginn unserer Freundschaft vor 25 Jahren kurz erzählt, seitdem aber nie wieder darüber gesprochen. Was trieb sie jetzt dazu, dieses Tabuthema anzugehen? Kirsten erzählte. Von Rolf Grauhan, der als Professor für Politische Wissenschaft in Bremen nicht nur Lehre und Forschung, sondern auch die öffentlichen Diskussionen über die Organisationsform unserer Gesellschaft prägte. Von dem sie dennoch so wenig wusste. Kirsten: «Ich weiß so gut wie nichts über sein Wirken. Wie war er als Professor? Wie haben ihn andere erlebt? Wie war mein Vater, bevor er in diese tiefe Lebenskrise stürzte?» Jetzt, mit Mitte 50, fühlte sie sich sicher und stark genug, sich ihrem Vater wieder zu nähern. Hinzu kam die Erkenntnis, dass ihre eigene Erinnerung an den Vater immer mehr verblasste. Kirsten: «Das Bild von meinem Vater wird dominiert von seinem Suizid. Aber er hatte auch fröhliche und liebenswürdige Seiten. Ich will ihn noch einmal in mein Leben holen, um ihn besser kennenzulernen.»

Wir schwiegen zunächst. Ob das nicht zu schmerzhaft für sie werden würde? Aber Kirsten war sich ihrer Sache sehr sicher. Ihr Argument: «Ich möchte mit den Menschen sprechen, die meinen Vater noch persönlich kannten. Einige von ihnen haben sich damals um uns gekümmert. Ich möchte mich bei ihnen bedanken. Die sind jetzt höheren Alters – ich muss das recht bald machen.» Ihr Plan war, nicht nur Zeitzeugen zu befragen, sondern sich auch durch seine persönlichen Aufzeichnungen und seine Publikationen durchzuarbeiten. Ein Mammutprojekt. Ich überlegte, wie ich sie dabei unterstützen könnte. Ich wandte mich an mein «Narrationsnetzwerk» – Menschen, die professionell mit Geschichten arbeiten. Wenig später das erste virtuelle Meeting. Kirsten: «Ich habe ein unglaubliches Mass an Mitgefühl und Zuspruch erhalten und ganz viele praktische Tipps zur Umsetzung meines Vorhabens. Sogar die Idee einer Veröffentlichung in Form eines Buches stand im Raum. Ich war erfüllt von ungeheurer Euphorie und Tatendrang.»

 

Kirsten machte sich auf den Weg in ihre Vergangenheit. Sie begann mit dem Anruf bei einer sehr frühen und engen Freundin ihrer Eltern, bei dem sie ganz neue Seiten ihres Vaters kennenlernte. «Dein Vater war ein wunderbarer, grundgütiger, sehr kluger und gebildeter Mensch und er hatte einen enormen Wortwitz», so die Freundin. Diese Worte gaben ihr den Mut, den nächsten Schritt zu gehen und mit seinen letzten Weggefährt:innen zu sprechen. Das war heikel, denn Rolf Grauhan hatte sich spektakulär das Leben genommen. Selbst jetzt, nach 40 Jahren, sprachen Kollegen und Freunde mit grosser Betroffenheit darüber. Dennoch: Alle Menschen, die sie anrief und besuchte, erzählten gerne und offen von ihren Erlebnissen mit Rolf Grauhan. Kirsten: «Auch wenn die Erinnerung an seine letzten Tage schmerzhaft war, so konnten wir doch auch gemeinsam auf seine Stärke, seine Gestaltungskraft, seine Kreativität und sein enormes soziales Engagement schauen.» Nicht nur das: «Durch das Eintauchen in diese Zeit, die jede:r von uns auf ganz eigene Art erlebt hat, und durch das Teilen unserer Erinnerungen entstand eine tiefe Verbundenheit zwischen uns. Für mich wurden all diese wunderbaren Menschen zum Teil meiner eigenen Lebensgeschichte.»

Zurück von ihren Gesprächen stellte sich die Frage, was sie jetzt mit all den Informationen, Eindrücken und Notizen anfangen sollte. Da stand ja noch das Buch-Projekt im Raum. Kirsten überlegte lange. Dann entschied sie sich, lediglich einen Wikipedia-Eintrag über ihren Vater zu schreiben. Um ihn zu ehren und ihn im öffentlichen Gedächtnis zu behalten. Eine Biografie über Rolf Grauhan, so ihr Entschluss, würde sie nicht schreiben. Die Vorstellung, die Beziehung zu ihrem Vater und seinen Einfluss auf ihr Leben öffentlich zu machen, erschienen ihr mit einem Mal befremdlich. Und für sich selbst auch nicht mehr nötig. «Die Auseinandersetzung mit meinem Vater hat mich bereichert und gestärkt. Es war so, als hätte ich einen Raum betreten, der lange Zeit verschlossen war. Es war wichtig für mich, diesen Raum zu öffnen, ihn zu erkunden und zu durchqueren.» Ein schmerzlicher Prozess, aber auch ein befreiender und bereichernder. «Ich weiß, dass mein Vater mich sehr liebte, und ich bin ihm dankbar für das, was er mir hinterlassen hat. Unter anderem die Fähigkeit, eigene selbstständige Gedanken zu entwickeln und einen unabhängigen Geist und Lebensstil zu besitzen.»

Sich der eigenen Vergangenheit zu stellen, so ihre Erkenntnis, muss nicht heissen, diese ein für alle Mal abzuschliessen. Es geht vielmehr darum, sie in das eigene Leben zu integrieren, um daraus Energie für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen. «Ich kann jetzt gestärkt den Weg meines Lebens weiter gehen und mich mit neuen spannenden Themen beschäftigen.»

Mein erster Lebens- und Bildungsweg führte mich von meinem kleinen Eifeldorf bis zur Kreisstadt. Mit 19 war ich ausgebildete Bankkauffrau – ich war am Ziel meiner beruflichen Träume angekommen! Doch da war so eine Sehnsucht in mir, eine Sehnsucht nach Lernen und Denken und Erfüllung.
Auf dem Köln-Kolleg holte ich mein Abitur nach. Neben der Schule zog ich durch Museen, gab mein ganzes Geld für Theater-, Ballett-, Konzertbesuche aus und lernte jede Menge aufregender Leute kennen. Weiter ging's nach München zum BWL-Studium. Erster Job in einer Unternehmensberatung.
9 Jahre später, verheiratet, Mutter einer 12 Monate alten Tochter, nach der Elternzeit den Job verloren, und wie von Zauberhand fand ich mich in einem Konzern wieder. Zweites Kind, Scheidung, alleinerziehend. Ein Wimpernschlag später: die Kinder aus dem Haus, den Job im Griff. Zeit, einen Gang zurückzuschalten. Oder ein Philosophiestudium zu beginnen.
Und so wandle ich derzeit auf dem dritten Bildungs- und Lebensweg. Manchmal hadernd ob der Kürze der Zeitspanne, die noch vor mir liegt. Manchmal zornig, wenn ich mal wieder die unsichtbare Altersdiskriminierung spüre. Und immer wieder neugierig, was mir diese spannende Phase von Mitte 50 bis Mitte 60 noch alles bringen wird. Darüber möchte ich schreiben. Meine Geschichten sollen eine Brücke bauen vom Ich zum Du, sie sollen Impulse geben, neue Perspektiven aufzeigen und zum Debattieren anregen.

Dagmar Grauhan sagt:

Ich gratuliere Dir, liebe Kirsten, daß Du Dich mit Rolfs Leben so intensiv beschäftigt hast.
Sein Suizid war der erste große Schock in meinem Leben und beschäftigt mich bis heute,
auch weil mein Bruder sich 11 Jahre später ebenfalls das Leben genommen hat.
Inzwischen habe ich das Recht eines jeden Menschen, sein Leben selbstbestimmt zu
beenden, verinnerlicht und bin frei von Vorwürfen.

“ Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts ich bin frei.“

Kirsten Grauhan sagt:

Vielen Dank liebe Dagmar,

ich freue mich sehr über Deine Worte und unseren Austausch, der über dieser Recherche wieder lebendig geworden ist. Deine Worte berühren mich tief, ja es war ein Schock. Und auch ich bin zu dem Punkt gekommen, dass jeder Mensch das Recht hat zu gehen. Und tatsächlich hat der schmerzhafte Prozess dahin zu einer Art innerer Freiheit geführt. Die Entscheidung zu akzeptieren und zu erkennen, dass man in sich unabhängig und eigenständig ist.

Onnen Grauhan sagt:

Liebe Flume*, liebe Leser des Silver Magazine,

vielleicht eher ein complement als ein comment:

Rolf war mein Onkel. Das hat der liebe Gott so gewollt. Er war aber auch mein Patenonkel und dies hat sein 7 Jahre älterer Bruder Fritz so gewollt, was ja schon einmal für Rolf spricht. Die Bitte, sich als Patenonkel zur Verfügung zu stellen, ist durch eine formlose kleine Postkarte dokumentiert, die Jahre später den Weg zurück zu mir gefunden hat: „Lieber Rolf, möchtest Du die Patenschaft für ein 3,6 kg schweres Stammganglienwesen übernehmen? Fritz “ Kurz, knapp, aber erkennbar in dem Duktus gehalten, der bei den wortgewandten Juristen Rolf und Fritz zu einer eigenen Kunstform gedieh! Ein Amalgam tiefgründiger Zitate und verschmitzter Anekdoten, zumeist aus Familientradition.

Mit 8 Jahren folgte ich der Einladung von meines Patenonkels zu einem ersten gemeinsamen Familienurlaub. Ich flog von Berlin (damals noch Tempelhof) über Frankfurt nach Zürich, wo ich von Rolf und Familie abgeholt wurde. Achtjährige Stammganglienwesen allein auf einen Auslandsflug mit Umsteigen in Frankfurt zu schicken, schien unseren Vätern offenbar nicht als Verletzung der Fürsorgepflicht. Mit Freunden von Rolf ging es dann weiter in eine Hütte in die Vogesen. Mit Außen-Plumpsklo! Rolf schien die Erholung in einfacher Umgebung mit netten Menschen zu lieben.

Fünf Jahre später durfte ich dann mit den Familien von Rolf und seinem Freund Henning Scherf zum Urlaub nach Bornholm. Dort wurde mein Vetter Holger vom Herrn Papa mit den Hauptstädten der Welt gezwiebelt – und ich gleich mit. Am Ende des Urlaubs kannte ich alle Hauptstädte und der Hochschullehrer Rolf hatte spielend geschafft, woran die Berliner Gymnasiallehrer schon länger verzweifelten: Zu vermitteln, dass Wissen Spaß macht. Eine Initialzündung! Seither wollte ich „Professor werden – egal für was!“

Eine Reise zu Rolf hat sich immer gelohnt! Auch jetzt die in die Vergangenheit!

*den Kosenamen Flume hat Kirsten meines Wissens von Rolf bekommen, aber ich darf ihn auch benutzen. Ich finde ihn übrigens sehr angemessen!

Kirsten Grauhan sagt:

Lieber Onnen,

vielen Dank für diese schöne Reise in die Vergangenheit, ich habe mich sehr darüber gefreut. Es sind tatsächlich viele Details lebendig geworden, die ich gar nicht mehr so präsent hatte. Wie die kunstvolle Art unserer Väter, mit Worten lustige Beiträge zu leisten (auch wenn ich nicht immer alles verstanden habe).

Die Urlaube hingegen erinnere ich auch noch sehr gut, die Hütte in den Vogesen war ein ausgebauter Kuhstall. Und wir haben uns an kleinen Wasserrädern die Zähne geputzt, die an einem schmalen Fluss vor der Hütte installiert waren. Auch das Ratespiel mit den Hauptstädten ist mir wieder eingefallen.

Professor bist Du ja tatsächlich geworden. Wie schön zu hören, dass damals der Grundstein für Deinen Werdegang gelegt wurde.

Vielen Dank für diesen schönen Beitrag

Deine Flume

P.S. Ja, mein Vater Rolf hat es geliebt, lustige Kosenamen zu vergeben.

Anne Koenen sagt:

Meine liebe langjährige Freundin,

ich weiß, es war für dich ein langer, aufregender, emotionaler und schwieriger Weg, aber Du hast es geschafft ihn endlich zu gehen !
Dein Vater wäre sicherlich unendlich stolz auf Dich und ich bin es auch und wünsche Dir auf deinem weiteren Lebensweg alles Liebe, Glück und Zufriedenheit
Während ich deinen Artikel gelesen habe, begleitete mich die ganze Zeit über dieses Lied :
…..and memories bring back,
memories bring back you ………..von Maroon 5, einer meiner Liebliengssongs xxx

Kirsten Grauhan sagt:

Liebe Anne,
vielen Dank für Deinen schönen Kommentar und unsere wundervolle, langjährige Freundschaft in der wir schon so einiges erlebt haben. Das Lied finde ich auch wunderschön, es erinnert mich immer daran, dass diejenigen die gegangen sind trotzdem immer ein Teil von uns bleiben.

Christine Erlach sagt:

Liebe Kirsten, liebe Gerda-Marie,
als wir uns beim virtuellen Meeting damals zusammenzusetzen, um darüber nachzudenken, wie Du Deine Reise in die Vergangenheit am besten methodisch angehen könntest, wussten wir wohl alle noch nicht genau, wie sich Dein Weg in Erinnerungen und damit verbundene Emotionen eines Tages materialisieren würde.
Nun lese ich diese wundervollen Zeilen! Ich danke Euch, dass ich einen kleinen Teil dieser Reise miterleben durfte und freue mich, dass eine so schöne Erzählung entstand!

Kirsten Grauhan sagt:

Liebe Christine, vielen Dank für Deine schönen Worte. Ich freue mich sehr, dass wir uns auf dieser Reise begegnet sind.

Prof. em. Dr. Wolf Linder sagt:

Wie überrascht ich doch vor einem guten Jahr war, am Telephon eine Frauenstimme zu vernehmen, die ich das letzte mal vor fast 50 Jahren Mädchenstimme gehört hatte: Kirsten Grauhan. Es folgte ein langes Gespräch, über Kirstens Versuch, sich ihrem Vater anzunähern, über meine persönlichen und beruflichen Erinnerungen an Rolf Richard, bei dem ich doktorierte, mit dem ich publizierte, und dem ich viel verdanke.
Schön zu lesen, liebe Kirsten, was Dir die Suche nach Deinem Vater und die Gespräche über ihn persönlich gebracht haben. Und schön, dass Du mit Deinem umfassenen Wikipedia-Eintrag den Wissenschafter und die öffentliche Person des Rolf-Richard Grauhan der Vergessenheit entrissen hast.

Kirsten Grauhan sagt:

Lieber Wolf,
vielen Dank für Deinen schönen Beitrag und vielen Dank für unser langes Gespräch, beides bedeutet sehr viel für mich.

Kirsten Grauhan sagt:

Ich freue mich sehr über diesen Artikel und die wunderschönen Bilder.
Es ist ein sehr befreiender Prozess, eigene Lebensthemen aufzuschreiben und sie somit zu verarbeiten.
Ich habe zum ersten Mal einen Artikel im Co-Writing geschrieben und das war eine ganz wundervolle Erfahrung, weil man gemeinsam Gedanken entwickeln und reflektieren kann.
Vielen Dank an dieser Stelle liebe Gerda-Marie für deine einfühlsame, ausgezeichnete Arbeit.
Die Vorstellung, durch die Veröffentlichung auch anderen Menschen eine Anregung zu geben ist sehr erfüllend.
Und in diesem Sinne freuen wir uns natürlich auch über Kommentare und Austausch von Gedanken.

Kirsten Grauhan

Katharina Braun sagt:

Wow! Good for her. And a good reminder to look back and closer to some untold stories. Well written! K

Kirsten Grauhan sagt:

Thank you K, yes untold stories are always worth to be told.

Christiane Stark sagt:

Grossartiger Artikel!

Kirsten Grauhan sagt:

Vielen Dank liebe Christiane.

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