Gehen Sie öfters fremd.

Gehen Sie öfters fremd.

Unser ganzes Berufs- und Erwachsenenleben rennen wir einer Karriere hinterher oder einem Sinn im Leben. Wir bemühen uns, engagiert, geistreich und empathisch durch Freundschaften zu mäandern, in professioneller Manier Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen sowie stets darauf bedacht zu sein, im richtigen Moment eine gute Falle zu machen. Wir hatten und haben uns seit Jahrzehnten unter Kontrolle. Und womöglich haben wir nicht nur ein kleines Vermögen, sondern auch einen achtbaren Status aufgebaut.

Natürlich ging das nicht von allein. Es musste schon etwas in Bildung und Überstunden investiert werden. Vielleicht auch ins Fitnessstudio. Aber ganz bestimmt in die Schule des Lebens. Was bedeutete, dass man sich im Dunstkreis aufstrebender Karrieristen über den Nebel zu kämpfen hatte, damit man wahrgenommen wurde. Ein Lächeln da, eine geistreiche Schmeichelei hier, und immer darauf bedacht, dass man sein Ego nicht aus dem Ruder laufen liess. Vor allem aber musste man sich auch die richtigen Leute zum Freund oder zum Feind machen. Das verlieh Authentizität und machte einen nicht zum Opportunisten. Man bewies Standhaftigkeit und konnte sich selbst einbilden, dass man zum Alphatier geboren sei. Natürlich brauchte das auch ein wenig Mut. Denn Kadavergehorsam war von vornherein schon immer ein Rohrkrepierer. Nein, man musste schon auch mal in den oberen Etagen den Kopf hinhalten und auf Dinge beharren, die einem eigentlich gar nicht so wichtig waren. Aber es galt eben, zu markieren und jeden Verdacht, man sei ein Wendehals, abzuwenden. Und je mehr man so tat, als sei man das alles selber, umso mehr wurde man auch dazu. Irgendwie war man sich selbst abhanden gekommen und landete plötzlich im mittleren Kader oder – noch viel schlimmer – in der Geschäftsführung. Man war auf einmal zu dem Menschen geworden, den man stets beneidet, aber auch belächelt und gehasst hatte. Man war einer, der jetzt mehr zu sagen hatte. Oder mit anderen Worten: als Flosse zum Kopf gerutscht, der vielleicht schon zu stinken begann.

 

Sie sehen, unsere Karrieren und unsere Erfolge sind eine Aneinanderreihung von Absichten, die man so nie hatte. Man wurde da wie eine Flipperkugel herumgeballert oder als Super Mario auf ein höheres Level katapultiert. Irgendwie war man, auch wenn man das nicht gerne zugibt, vom eigenen Ehrgeiz in Geiselhaft genommen worden. So sehr, dass man als bedeutungsvolles Mitglied der arbeitenden Gesellschaft nicht mehr aus dem Rampenlicht treten konnte. Man stand unter Beobachtung und war dem Schauspiel, das man selbst inszenierte, verpflichtet. Doch vor allen Dingen: man war nicht mehr frei im Kopf. Darum: Gehen Sie fremd.

 

Wenn Sie wollen, natürlich im eigentlichen Sinne. Aber das Fremdgehen, das ich meine, ist die gedankliche Flucht in andere Köpfe. In ein Alter Ego. Seien Sie einmal nicht sich selbst. Geniessen und betrachten Sie die Dinge um sich herum aus einer ganz anderen Perspektive, als eine andere Persönlichkeit und mit einem komplett anderen Hintergrund. Sie glauben ja gar nicht, wie befreiend man sich als ein anderer in der Welt bewegen kann.

Und wie interessant! Wenn Sie morgens – statt ein Gipfeli im Café um die Ecke – in der Avenue Montaigne in Paris ein Croissant in den Mund schieben und Sie kurz davor sind, sich als Vorführdame bei Christian Dior höchstpersönlich zu bewerben. Und zwar nicht heute, sondern 1951. Oder wenn Sie als Howard Hughes ins Tram steigen und die Luftfahrt statt das Züri-Netz erobern. Zu verschroben? Nun, dann entscheiden Sie sich für einen Philosophen oder einen Staatsmann. Allerdings nicht in den Momenten einer Krise, sondern eher in der Phase, wo man die Lorbeeren einsammeln kann, nachdem man ein grossartiges Lebenswerk hinterlassen oder ein richtungsweisendes Gesetz erlassen hat.

Und warum nicht einmal in einem Restaurant als Kaiser Augustus pinkeln gehen? Fühlt sich doch schon viel erhabener an, sich das enge WC als eine weitläufige Latrine vorzustellen, wo man mit den Senatoren in einer Reihe sitzt und sich darüber unterhält, wie die Germanen nun doch zu besiegen seien. Sieht ja keiner. Findet alles in Ihrem Kopf statt.

 

Genau jener Kopf, den Sie vielleicht gerade über meinen Vorschlag schütteln mögen. Aber glauben Sie mir, die Welt mit anderen Augen zu sehen, hat nicht nur eine erbauliche Seite, sondern auch einen ungemein hohen Erholungswert. Das ist wie in die Berge fahren. Dort oben, 3000 Meter über Meer und in Ihrem Kopf, blicken Sie anders auf die Niederungen des Alltags.

Und sollten Sie tatsächlich noch zu der raren Spezies gehören, die Tagebücher schreibt, dann ist nichts verlockender, als jeden Tag in einer anderen Zeit und als andere Person zu erleben. Wer weiss, vielleicht werden Sie dann noch zu einer schreibenden Grösse mit einer eigenen Kolumne in der Zeitung? Oder, was noch viel grossartiger ist, zu einem Blogger für «The Silver Magazine».

Gehen Sie fremd. Nichts bringt Sie näher zu sich als das.

Es ist nicht einfach, als zweites von fünf Kindern aufzuwachsen. Und dann auch noch in einer Familie, in der die Eltern im eigenen Betrieb fast rund um die Uhr beschäftigt sind. Denn Vater und Mutter führten ein Restaurant mit einer Metzgerei, wo sie von morgens um 8 Uhr bis oft weit über Mitternacht auf den Beinen waren. Ja, meine Eltern wussten, was arbeiten bedeutet. Und ich bin ihr Sohn.

Im appenzellischen Trogen aufgewachsen, bin ich von der Hügellandschaft und dem barocken Charakter meines Heimatdorfes schon von klein auf geprägt worden. Die Paläste der Zellweger-Dynastie, die wie Zuckerwürfel um den Dorfplatz verteilt sind, und die Hanglage des Dorfes strahlten für mich schon immer eine Weltoffenheit aus, die ich mit Kühnheit und viel Fantasie erobern wollte.

Mein Eroberungsfeldzug hat mich zwar nur bis nach Zürich gebracht, doch mit der Sprache bin ich schon durch alle Jahrhunderte und Kontinente mäandert und habe Geschichten gefunden und erfunden. Heute arbeite ich als selbständiger Texter für Werbung, Editorial, Private und Unternehmen.

Zudem verbinde ich mit meinem Textil-Label «Cushion Library» Design mit Storytelling in Form von Kissengeschichten aus 100% Seide, gefüllt mit Daunen und Poesie.

Und ich freu mich sehr, meine Erzählungen und Erfahrungen hier mit Ihnen zu teilen.

Gerda-Marie Adenau sagt:

Lieber Christian,
Ich versuche mich manchmal als Madame de Pompadur, als Marquise de Stael und als Michelle Obama.

In meinen Träumen führe ich einen philosophisch-literarisch-musikalischen Salon. Ich könnte Dir sogar das Muster der Tapete und Qualität und Farbe des Fenster- Vorhangs beschreiben.

In der Realität lade ich zu kleinen Freitag After Works ein. Manchmal mit kurzer Lesung. Manchmal zu Ehren meines neu erworbenen Kunstwerks. Manchmal spielt eine Freundin Cello.

Und die großen historischen Salon-Damen summen nachsichtig lächelnd mit.

Christian Schirmer sagt:

Liebe Gerda-Marie

Vielen herzlichen Dank für die kleine Einsicht in dein Doppelleben. Ist es nicht so, dass wir diese kleine Fluchten manchmal einfach brauchen? Schön aber auch, wenn du dir das auch in der Realität gönnst. Bin überzeugt, diese kleinen After Works sind ganz wunderbar.

Herzlich
Christian

Andy Hostettler sagt:

Hab gerade als JFK die Kuba-Krise heraufbeschworen und weiss nicht, wie ich sie lösen soll. Schöner Ansatz Christian. Danke!

Christian Schirmer sagt:

Lieber Andy, vielen Dank. Meine Krise kann ich meistens auch nicht lösen. Ich versuche sie auszusitzen oder einen anderen Krisenherd zu suchen, wo ich doch noch reüssieren kann.

Leave a comment :