Going down memory lane – oder das eleganteste Paar der Welt.
Alte Wege
Kürzlich war ich in meiner alten Heimat Bern auf ein Mittagessen-Date mit einem lange Verflossenen.
Das Date kam nicht zu Stande. Wtf dachte ich mir und dann auch noch irgendwas in Richtung aufgewärmter Pilzgerichte.
Ich hatte keine Lust auf Flanieren dr schöne, schöne Aare na und entschied mich spontan, mit dem Bus in das Stadtviertel zu fahren, in dem ich vor vielen Jahren meine Jugend verbracht hatte.
Bus Nummer 19
Alles war wie immer und nichts mehr wie zuvor, und der Nebel lag zäh über der Stadt.
Ich muss dazu sagen, dass ich Vergangenheitsgänge liebe!
Ja, ich liebe dieses Gefühl, das Besitz von mir ergreift, mir durch den Körper fährt wie ein unerwartetes Begehren.
Wehmut, so sagt man, heisst die Chose.
Bei Wikipedia bzw im
«Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe von 1907»
von Friedrich Kirchner/Carl Michaëlis steht:
«Wehmut heisst der Affekt der Traurigkeit, der entweder der Erinnerung an eine vergangene Lust, an ein verlorenes Gut oder der Einsicht in die Unmöglichkeit, ein ersehntes Gut zu erlangen, entspringt. Es mischt sich in jene Traurigkeit auch ein Gefühl der Lust.»
Ein Spitzencocktail – fährt ein wie ein Negroni auf nüchternen Magen.
Ich liess mich also treiben und meine Füsse trugen mich Jahr um Jahr zurück…
Vorbei am Schulhof, dem Bäcker mit dem besten Carac der Stadt, dem Tearoom, wo der alte Mann – weisch, dä wo mal Bundesrat gsi isch – seinen Tee Crème trank, dem Coiffeur, dem Blumenkiosk…
Der vertraute Wehmutsrausch wollte sich aber nicht recht einstellen, die Ernüchterung über das verschobene Date steckte mir in den eitlen Knochen.
Auf und zurück downtown mit dem braven Bus, denke ich.
Für immer jung
Bei der Station Steinhölzli steigen sie ein: der Mann und die Frau.
Das eleganteste Paar der Welt.
Und da war er: der Rausch der Erinnerung.
Er materialisierte sich quasi vor meinen Augen.
Ich war sechzehn, und sie waren das eleganteste Paar der Welt.
Jeden morgen kurz nach halb acht stiegen sie zu, wenn ich unterwegs war zur Schule in der City.
Sie setzten sich nie, und ich war fasziniert von ihrer Erscheinung und davon, wie klein sie sind.
Die dunklen Haare trug sie immer zu einem perfekten Chignon hochgesteckt, ihre zierlichen Hände in hellen Wildlederhandschuhen.
Nie sah ich sie in Hosen, sommers wie winters trug sie elegante Pumps und feine helle Nylonstrümpfe.
Sein Flanellanzug sitzt wie damals perfekt, in der Westentasche steckt die Taschenuhr, der Hemdkragen gestärkt und blütenweiss, den eleganten grauen Hut trägt er wie kein anderer.
Nun sind beide vom Alter gebeugt, schlohweiss die Haare, ihre Augen aber, die schauen noch immer blitzwach.
Sie müssen inzwischen über neunzig sein…
«Wir sind Sarden und sprechen Sardisch», so hatten sie mir damals freundlich erklärt, als ich mir nach Jahren ein Herz fasste und sie nach ihrer Herkunft und Sprache fragte.
Wie damals bin ich fasziniert von der Würde und Eleganz der beiden – und wie damals frage ich mich, wohin sie wohl fahren.
Im Auge des Betrachters
Mein Blick schweift durch den Bus und bleibt an all den Schlabberhosen und Duschfrisuren hängen – inklusive meiner eigenen.
Was ist bloss los, frage ich mich.
Zuerst waren es die Umhängetaschen, dann der Schlüsselbund an der Kordel gefolgt von den iPhones an Kordeln über die Sonnenbrillen an Brillenketten und nun sind’s die Hygienemasken an Hygienemaskenketten.
Dinge an Kordeln und Bändern sind Kindergartenkindern, Schlüsselkindern, Pflegefachmenschen und velofahrenden Künstlern aufm Weg ins Atelier vorbehalten, stänkere ich stumm vor mich hin.
Zumindest sind keine Statementgummistiefel von Hunter im Bus zu sehen, die finde ich nur bei Landeiern mit Ländereien angemessen, polemisiere ich innerlich weiter und höre meine Nonna sagen: «Du bist, was Du trägst.»
Ist das so? Sind wir, was wir tragen, grüble ich und nehme mir vor, mich ab sofort gewählter anzuziehen.
Das eleganteste Paar der Welt aber lächelt mich beim Verlassen des Busses heiter an, alterslos und für immer jung.
I love going down memory lane…
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