Ne, lass mal...

Ne, lass mal…

Die Hautfarben Falle

Donnerstagabend, Hamburg Schanzenviertel. Gleich ist es 21.30 Uhr. Ein Freund hat mich hergebracht, weil es hier Kneipen gibt, die zu dieser fortgeschrittenen Zeit noch warmes Essen servieren. Beim Italiener finden wir einen Tisch. Es ist warm und wir sitzen draussen. Fühlt sich gut an. Eine coole Gegend, mit vielen jungen Leuten. Ich freue mich auf das Essen. Meine Blicke gleiten auf die andere Strassenseite. Da tummeln sich friedlich ein paar Leute auf einer Treppe. Kartons werden gestapelt und Einkaufswagen rumgeschoben. Beim näheren Hinsehen merke ich, das sind Obdachlose, die sich für die Nacht einrichten. Ich schaue runter auf den Gehsteig. Die jungen Leute auf der anderen Seite sind gar nicht so cool. Da sind viele, sehr junge Junkies und Dealer. Das dämpft meine Stimmung abrupt. Ich habe auch Kinder und davor fürchte ich mich sehr. Was für eine Scheisse, dieses Drogen-Elend.

Wir nehmen nur Bargeld.

Das Essen ist durch, Wein und Kaffee auch. Der Ober bringt die Rechnung. «Heute wegen defekter Maschine keine Kreditkarten.» Ich habe kein Cash, mein Freund auch nicht. Vis-à-vis steht ein Bankomat. Ich überquere zwei Strassen und lasse Geld raus. Auf dem Weg zurück spricht mich ein Mann an. Er sitzt auf einem Stein. Dunkle Haut, dunkle Jeans, schwarzes Käppi, dunkle Lederjacke: «He du!» Ich gehe an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen. Habe keine Lust auf ein Bettel- oder Verkaufsgespräch.

Wieder in gebrochenem Deutsch: «He du, komm!» Alles, was mir einfällt, ist ein «Ne, lass mal…» und gehe weiter. Nach dem Überqueren der zweiten Strasse merke ich, dass er mir gefolgt ist. «He du, warte.» Ich schau mich um. Er streckt mir eine 5-Euro-Note entgegen. Was ist denn das für eine Masche, frage ich mich? «Dein Geld!», meint er. Ich weiss, dass der Geldautomat keine 5-Euro-Scheine ausspuckt. Darum nochmals und dieses Mal etwas bestimmter «Ne, lass mal, kannst es behalten.»

Krass

Am Tisch angekommen, nehme ich die neuen Noten aus meiner Jeans. In dieser Sekunde fällt mir ein, dass ich beim ersten Zahlungsversuch ein paar Münzen und einen 5-Euro-Schein in der Tasche hatte. Der war nun weg. Das darf jetzt nicht wahr sein. Der vermeintliche «Dealer» wollte mir meinen 5 Euro-Schein zurückgeben, der mir offensichtlich beim Überqueren der Strasse aus der Tasche gefallen war.

Es trifft mich wie ein Blitz. Wie kann ich es nur wagen, so ignorant und arrogant zu sein. Nur weil hier viele dunkelhäutige Dealer rumrennen? Ich war geschockt. Sofort stand ich auf, zog meinen Freund hinter mir her und ging zu dem Mann hin, der wieder auf dem Stein sass. Als er uns sah, öffnete er sofort seine Brieftasche, zog den 5 Euro-Schein raus und wollte ihn mir übergeben. Meine endlosen Entschuldigungen konnten mein Verhalten nicht rückgängig machen. Eine Weile sprach ich noch mit ihm, verliess dann aber den Platz. Selten fühlte ich mich so miserabel. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass ich selber zwei dunkelhäutige Kinder habe und das Thema Diskriminierung immer wieder ein Thema ist. Auch wenn in den meisten Fällen in einer solchen Umgebung nach Geld oder Verkauf gefragt wird, ist Pauschalisierung ein mieser Ratgeber.

Conclusion

Ein junger Mann aus Guinea aus meinem Buch «Switzers – Die 193 Nationen der Schweiz», (www.switzers.ch) bringt es auf den Punkt: «Jede Begegnung ist eine Chance.»

Wie konnte ich das nur vergessen.

Entscheidungen treffe ich aus dem Bauch heraus. Dieser lässt mich selten im Stich, aber wenn es doch mal vorkommt, switche ich zu meiner Lebensphilosophie: «Mach lieber jetzt, was du später vielleicht bereust, als dass du später bereust, es nie gemacht zu haben.» Das lebe ich intensiv und es erlaubt mir, auch mal versagen zu dürfen, ohne mich danach zu hinterfragen.
Ich lebe im Sternzeichen Zwilling, bin sehr neugierig und für alles offen und meine Interessen sind breit gefächert. Aber meine Ungeduld lässt es leider nicht immer zu, dass ich mich in die Themen vertiefe. Darum kann ich vieles ein bisschen. Ausser in meinem Beruf als Werbefilmproduzent und Regisseur: Da reicht ein bisschen nicht. Ich spiele Gitarre, fotografiere, koche, reise viel und lasse mich dabei leidenschaftlich gerne inspirieren. Diese Inspirationen prägen mein Leben und vieles, was ich bisher erschaffen habe.

Martina sagt:

Sehr berührend und es macht mich nachdenklich. Wir wissen ja das wir uns nicht von Vorurteilen leiten lassen sollen. Und doch fallen wir immer wieder mal in diese Falle.Unsere „Urteile“ bringen uns weg von unseren Inneren. Hier schaltet sich der Verstand ein und das Gefühl aus.Danke für das Teilhaben an Deinen Erlebnis.

Dominique Z. sagt:

Sehr schön geschrieben – sehr schöner Inhalt.
Selber dunkelhäutig, kenne ich solche Situationen nur zu gut.
Wie schnell ist man vorverurteilt, ich selber bin da keinesfalls besser.
Schön, dass solche aus dem Leben gegriffenen Geschichten einen immer
wieder daran erinnern, dass wir alle gleich sind oder wie du es so schön sagst:
„Pauschalisierung ist ein mieser Ratgeber!“

Suzy O. sagt:

Deine Geschichte ist aus dem Leben gegriffen. Auch ich habe oft das Urvertrauen verloren. Das Vertrauen in das Gute. Das Misstrauen ist oft schneller und die Chance, diese Du nennst verpasst. Danke für den Denkanstoss, an die Wurzel des Vertrauens zu appelieren.

Christine O'Brien sagt:

I really admire your honesty in telling your story. And I am sure we are all guilty of doing the same but less likely to publicly admit it. I believe mindfulness is the solution – to ( in the moment of doing so) be aware that we are judging, let the judgment go and reflect on where it came from. And that also includes judging ourselves.

Christina H. Seibold sagt:

Die Geschichte berührt mich! Es ist die Erkenntnis und der Schreck darüber, jemanden in eine Schublade gesteckt zu haben. Das Erschrecken über die eigene Denkweise, das eigene Handeln. Und was lernen wir daraus? Dass wir nicht unfehlbar sind. Dass wir Ängste und Vorurteile haben. Dass wir aus solchen Ereignissen lernen (sollten). Den Mut zu haben, sich zu entschuldigen ist ein Schritt. Den Mut zu haben, darüber zu sprechen (schreiben), ist ein weiterer. Das unterstreicht die Aussage: „Jede Begegnung ist eine Chance“, in deinem Buch „Switzers“ eindeutig!

Helen sagt:

Jede Begegnung ist eine Chance … wenn wir das leben können, dann dürfen auch Fehler gemacht werden … danke für diesen aufrüttelnden Beitrag!

Laura Gerritsen sagt:

Weise Worte lieber Reiner! Das Ganze erinnert mich an eine Begebenheit, die mir vor Jahren in München passiert ist. Ich ich habe mir das Studium mit Kellnern finanziert und war nach einer späte Nachtschicht mit der U-Bahn auf dem Weg nach Hause. Ein junger Mann setzte sich neben mich und erzählte mir, dass er im Asylantenheim wohnte. Ich plauderte mit ihm, aber ganz wohl war mir bei der Angelegenheit nicht. Ganz besonders nicht, als er mit mir ausstieg und den selben Weg lief. Vor meiner Haustür angekommen verabschiedete er sich freundlich und meinte, er wollte nur sicherstellen, dass ich auch sicher nach Hause komme …

Elias sagt:

Ich hatte das Gefuehl, dass es so kommen wird. Und ich kenne diese Situation selber auch..

Liebgruss, Reiner!

Piero Schäfer sagt:

Lieber Reini, toll, nicht nur wie Du das geschrieben, sondern wie Du reagiert hast. Es müsste mehr Menschen wie Dich geben…sei umarmt mein Freund

Oliver Fliege sagt:

Eine wahre und berührende Begebenheit aus einer Zeit, die uns bereits ausreichend isoliert. Sie sollte uns nicht nur zum Nachdenken, sondern zum Handeln animieren.

Leave a comment :