Sehnsucht

Sehnsucht

Kennt Ihr dieses bitter-süsse Gefühl, dieses schmerzliche Verlangen nach einem Mehr im Leben? Wir Menschen sind Sehnsuchtswesen. Die Sehnsucht zieht uns über die Banalität unseres Alltags hinaus, sie setzt uns in Bewegung, selbst wenn wir gar nicht so genau wissen, wohin es uns zieht. Und mit der Erfahrung, dass jede erfüllte Sehnsucht eine neue weckt.

Es war im Februar letzten Jahres, ich war zurück aus meinem fünfmonatigen wunderbar erfüllenden Leben in Krakau: Intellektuelle Herausforderungen, berührende Begegnungen mit Menschen, Zeit für mich selbst, und das alles in einer kleinen charmanten Stadt, in der Jüdisches und Christliches, Tradition und Moderne, Piroggen und asiatische Fusion-Küche verschmelzen zu einer dichten Atmosphäre lebendiger Geschichte. Ich fühlte mich so richtig gesättigt – und hatte doch Appetit auf mehr. Ich wollte noch tiefer in das Gefühl des Lebens eintauchen. Was genau ich damit meinte, das wusste ich selbst nicht. Ich konnte dieses Verlangen nicht benennen, nicht begreifen, nicht genau sehen.
Kairos würde mir sicherlich helfen können. Mein Götterfreund Kairos. Der immer ein wenig spöttisch, aber mit grösster Sympathie auf das Treiben von uns Irdischen herabblickte. Kairos, der mir schon so oft in meinem Leben günstige Augenblicke geschenkt hatte. Er würde mich auch jetzt nicht im Stich lassen. Ich lud ihn zu einem Tête-à-Tête ein.

Samstagabend. Eine Platte mit kleinen, feinen Köstlichkeiten, ein guter Rotwein, im Hintergrund entspannende Musik. Wir plauderten. Ich erzählte Kairos von meiner Sehnsucht, die ich nicht in Worte fassen konnte. Erwartungsvoll schaute ich ihn an. Kairos aber winkte ab: «Gibt es denn in Deinem Götterhimmel niemanden, der für die Sehnsucht zuständig ist?»Kairos schenkte sich ein Gläschen Rotwein nach: «Ja, natürlich, und zwar nicht nur einen. Denn es gibt ja viele Sehnsüchte.» erklärte er mir. «Da haben wir zunächst Eros, den Gott der Sehnsucht nach der anderen Hälfte. Ihr Menschen wart ursprünglich Wesen mit kugelförmigen Rümpfen, vier Händen und Füssen und zwei Gesichtern auf einem Kopf. In eurem Übermut wolltet ihr den Himmel stürmen. Dafür bestrafte euch mein Vater Zeus, indem er jeden von euch in zwei Hälften zerlegte. Ihr Menschen leidet tief an eurer Unvollständigkeit. Ihr seid ständig auf der Suche nach der Vereinigung mit der verlorenen anderen Hälfte. Das ist es, was euer erotisches Begehren ausmacht.»
«Eros kenne ich», warf ich ein, «meine Sehnsucht ist aber nicht von erotischer Natur.» «Na, das will ich auch schwer hoffen,» entgegnete mir mein Liebster und nahm sich noch ein Stückchen von der Lachspastete, die er so gerne mochte.
«Dann gibt es noch Himeros, den Gott der liebenden Sehnsucht und des sexuellen Verlangens.» Ich ignorierte seinen bedeutungsvollen Blick und seine rhetorische Pause. «Und weiter?“ «Und dann haben wir noch Pothos. Er ist die Personifikation der Sehnsucht nach etwas Abwesenden.»
Aha. So richtig verstanden hatte ich es noch nicht. «Und wie stehen diese Herren zueinander? Und wie können sie mir helfen, meine eigene Sehnsucht zu benennen und zu verstehen?»
«Dir wird schon was einfallen, Liebes.» Kairos erhob sich, nahm mich in den Arm, hauchte mir zwei Küsse auf die Wangen und schwebte mit seinen Flügelchen an den Füssen auf und davon. Da sass ich nun mit meinen diffusen Gefühlen. Eros, ja, den kannte ich, aber der war ja dauernd beschäftigt. Himeros und Pothos – von denen hatte ich nie zuvor gehört, die waren mir für mein Anliegen zu fremd. Das Thema würde ich wohl selbst in die Hand nehmen müssen.

Irgendwo würde es doch einen Wochenendkurs zum Thema Sehnsucht geben. Ich machte mich an die Internet-Recherche. Ach Du meine Güte, was für ein esoterischer Klimbim. Ich wollte eine Veranstaltung, die sowohl mein Hirn als auch mein Herz ansprach. Also Weitersuchen. Zwei Tage später stand der Plan: Das Seminar „Der Sehnsucht folgen“ am Benediktushof in der Nähe von Würzburg. Die Ausschreibung klang vielversprechend: Vorträge, Austausch, Vertiefung und Reflexion wechseln sich mit regelmässigen Zeiten der Stille ab. Eine Hinführung zur Kontemplation/Meditation ist in dem Kurs integriert.

Vier Wochen später sitze ich im Seminarraum. Mit einem nagelneuen Notizbuch, ein wenig Meditationserfahrung, wachem Kopf und offenem Herzen. Vor mir Claus Eurich, Philosoph, Publizist, emeritierter Professor für Kommunikation und Ethik und Kontemplationslehrer. Fundiert, strukturiert, analytisch – eine beeindruckende Persönlichkeit. Er spricht druckreif. Über die fünf Zugänge zur Sehnsucht: Vernunft, sinnliche Wahrnehmung, Intuition, Weisheit, Kontemplation, Letztere üben wir reichlich. Ich spüre in mich hinein. Denke an meine vor mir liegende Lebenszeit und versuche, der Spur meiner Sehnsucht zu folgen.
Mein Notizbuch füllt sich mit Einträgen: «Einmal noch.» und «…schöpferisch tätig werden» und «Spuren hinterlassen …». Schwierig, meine Gefühle in Worte zu fassen.
Auf dem Heimweg im Zug sinniere ich vor mich hin. Für den Abend bin ich mit Kairos verabredet. Er wird mich bestimmt fragen, was ich denn gelernt hätte über meine Sehnsucht. Ich schreibe in mein Notizbuch:

 

Sehnsucht – was sie ist

Sie ist nicht messbar, sagt die Vernunft.
Sie ist universell, sagt die Weisheit.
Sie ist gefährlich, sagt die Vorsicht.
Sie ist das Licht, sagt die Hoffnung.
Sie tut weh, sagt die Angst.
Sie macht dich stark, sagt der Mut.
Sie ist göttlich, sagt der Glaube.
Sie ist, sagt die Kontemplation.

Ich bin mir nicht sicher, wie Kairos darauf reagieren wird, fürchte mich etwas vor seinem kritischen Blick. Ich steige die Treppen zu meiner Wohnung empor. Der betörende Duft eines orientalischen Currys weht mir bereits im Hauseingang entgegen. Ich öffne die Tür. Lounge-Musik. Gelächter. Was ist denn hier los? Ich betrete den Flur. Freudestrahlend schwebt mir Kairos entgegen und führt mich ins Wohnzimmer. Auf der Ottomane sitzen drei Männer. Einen kenne ich: Eros. Die beiden anderen stellt Kairos mit als Himeros und Pothos vor. Umringt werden wir von unseren Freundinnen, den drei Chariten – der Anmut, der Schönheit und der Festfreude. Sie lachen und scherzen und heissen mich mit grossem Hallo willkommen. Kairos reicht mir einen Crémant: «Liebes, wir haben schnell ein spontanes Symposium organisiert und sind schon begierig von Deinem Wochenende zu hören.» So fange ich also an zu erzählen. Was genau? Das, liebe Leser:innen, bleibt einstweilen ein göttliches Geheimnis. Und damit schliesse ich für heute leise die Tür meiner Geschichte.

Info:
Der Benediktushof in Holzkirchen bei Würzburg ist ein überkonfessionelles Bildungshaus, und heute eines der größten Zentren für christliche Kontemplation, Achtsamkeit und Zen-Meditation. Neben Zen und Kontemplation werden am Benediktushof ebenso verschiedene moderne Achtsamkeitsmethoden, MBSR; Yoga sowie Kurse aus den Bereichen Führungskompetenz, Kreativität, Gesundheit und Selbsterfahrung angeboten.

www.benediktushof-holzkirchen.de

Kurs: Sehnsucht und Kairos – wenn der Himmel die Erde berührt
Termin: Freitag, 17.12.21, 18:00 – Sonntag, 19.12.21, 13:00

Mein erster Lebens- und Bildungsweg führte mich von meinem kleinen Eifeldorf bis zur Kreisstadt. Mit 19 war ich ausgebildete Bankkauffrau – ich war am Ziel meiner beruflichen Träume angekommen! Doch da war so eine Sehnsucht in mir, eine Sehnsucht nach Lernen und Denken und Erfüllung.
Auf dem Köln-Kolleg holte ich mein Abitur nach. Neben der Schule zog ich durch Museen, gab mein ganzes Geld für Theater-, Ballett-, Konzertbesuche aus und lernte jede Menge aufregender Leute kennen. Weiter ging's nach München zum BWL-Studium. Erster Job in einer Unternehmensberatung.
9 Jahre später, verheiratet, Mutter einer 12 Monate alten Tochter, nach der Elternzeit den Job verloren, und wie von Zauberhand fand ich mich in einem Konzern wieder. Zweites Kind, Scheidung, alleinerziehend. Ein Wimpernschlag später: die Kinder aus dem Haus, den Job im Griff. Zeit, einen Gang zurückzuschalten. Oder ein Philosophiestudium zu beginnen.
Und so wandle ich derzeit auf dem dritten Bildungs- und Lebensweg. Manchmal hadernd ob der Kürze der Zeitspanne, die noch vor mir liegt. Manchmal zornig, wenn ich mal wieder die unsichtbare Altersdiskriminierung spüre. Und immer wieder neugierig, was mir diese spannende Phase von Mitte 50 bis Mitte 60 noch alles bringen wird. Darüber möchte ich schreiben. Meine Geschichten sollen eine Brücke bauen vom Ich zum Du, sie sollen Impulse geben, neue Perspektiven aufzeigen und zum Debattieren anregen.

Ingrid sagt:

Danke für diese inspirierenden Worte!

Christine sagt:

Deine „sehnsüchtige Suche“ berührt wieder mal Gerda-Marie. Der Weg, wohin er Dich auch führt und Dein Enthusiasmus von dem Du Dich führen lässt… Danke, dass Du uns auf Deine Reise mitbringst.

Angelika sagt:

Wunderschön 🤩 DANKE

Gabriele Engel sagt:

Ein toller Text , wunderschön geschrieben , ich habe mich so oft wieder erkannt!
Bitte mehr😍

Linda Bosse sagt:

Wunderschön geschrieben… Erinnert daran, wie wichtig es ist, der Sehnsucht „auf der Spur“ zu bleiben…

Sabine sagt:

Wow, orientalisches Curry und Crémant. Bin schon sehr gespannt, wie die spontane Party weitergeht…

Nina sagt:

Wunderbar geschrieben! Wie gerne hätte ich an diesem Symposium teilgenommen! Erzähle uns mehr!

Susanne sagt:

I love it!

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