Betrachtungen übers Betrachten

Betrachtungen übers Betrachten

Barock ist hellblau, zartlila und chamoisfarben. Er glänzt als goldene Verzierung oder manierierte Stuckatur vom Himmel herab und leuchtet mit den letzten Sonnenstrahlen des Tages in einen blass blauen Himmel hinein, unter dem sich verspielte Wellen eines türkisfarbenen Meeres auf einer Linie kunstvoll kräuseln. Barock ist auch die Klangwelt von Bach und Händel, in denen die Freude und das Leid der Menschen zur vollkommenen Schönheit werden. Wo Tod und Geburt sich versöhnend die Hände reichen, um als zartbitterer Trost dem Leben einen Sinn zu geben. Barock schmeckt nach gebratenen Rebhühnern in zerlassener Butter mit Estragon. Nach mit Pflaumen gefüllten Tauben, die man in vergorenem Apfelsaft und der Beigabe von aufgequollenen Rosinen mariniert hat. Und natürlich auch nach zuckrigem Backwerk, das einen Hauch von Butter, Vanille und Kreuzkümmel in die Nase steigen lässt. Barock ist die materialisierte Üppigkeit. Pralle Hintern, schneeweisse Frauenbrüste und beleibte Kardinäle mit Gold überwucherten Fingern. Barock ist der Apfel der Verführung. Ausgelassenes Schweinefett in Tontöpfen. Weiss gepuderte Lockenköpfe. Barock ist die trügerische Vorstellung von Luxus und Pomp, hinter der sich ganz andere Wahrheiten verstecken. Barock ist eine Realität, die traumwandlerisch neben tiefsten Abgründen einher geht und nur darauf wartet, mit gnadenloser Gewalt vom Sockel gestossen zu werden. Barock ist wie ein letztes Abendmahl.

Ich stehe in Bilbao im Guggenheim. Vor mir betrachte ich die neunteilige Bilderserie «Nine discourses on Commodus» von Cy Twombly aus dem Jahre 1963. Eine Abfolge von rot-gelb-weissen Farbflecken – zuweilen wolkenartig oder explosiv – auf grauen Leinwänden, welche die Ermordung eines römischen Kaisers thematisiert. Wenn man den Titel des Werkes gelesen hat, kann man die Flecken durchaus als Verkrustungen und Verletzungen wahrnehmen; äusserst ästhetisch und – wie für mich immer bei Twombly – von einer kraftvollen Zartheit.

Dennoch, während ich hier vor diesem wunderbaren Werk stehe, kommt mir nichts anderes als Barock in den Sinn. Eine Assoziation, ein Gefühl, das mir hier viel angebrachter zu sein scheint als wenn ich vor einem Rubens stünde. Und auch wenn ich zugebenermassen etwas befangen bin, wenn es ums Barocke geht, komm ich nicht umhin, dieser Empfindung Raum zu geben. Dabei kommen mir sofort Bilder von Sofia Coppolas Film über Marie-Antoinette und die daraus resultierende Fotoserie von Annie Leibovitz für die Vogue in den Sinn. Dieselbe Ästhetik, der gleiche sorgsame Umgang mit den Farben, diese auf die Spitze getriebene Leichtigkeit des Seins, welche schliesslich mit einer blutigen Revolution oder einer Ermordung zu einem grossen Finale finden. Und wenn man vom Bildhaften ins Akustische dringt, öffnen sich da Klänge von Bach, Lully und Händel – ja die Versuchung, an die Feuerwerksmusik zu denken schwebt durchaus als Damoklesschwert über meinem Haupt, auch wenn ich versuche dieses Klischee zu verdrängen. Aber Assoziation ist nun einmal Assoziation. Und schon wird das barocke Element zur Filmmusik und zu cineastischen Titelsequenzen eines Martin Scorsese (The Age of Innocence) oder eines George Cukor (My Fair Lady), wo Blumen als Feuerwerke in Slow-Motion inszeniert werden und eben auch irgendwie barock in Erscheinung treten, was mich jetzt auch noch viel näher an Georgia O’Keeffe bringt, die…ups, überhaupt nicht barock ist.

 

 

Bin ich jetzt in der stilistischen Sackgasse gelandet? Habe ich mich so in der Kunstgeschichte verrannt, dass ich nicht mehr weiss, wo Twombly einen Rubens versteckt hat? Oder habe ich einfach als Kind zu wenig Ohrfeigen gekriegt? Nun, das ist ja das Schöne an diesen Museumsbesuchen: wenn man hineingeht, weiss man nie, ob man mit den Bildern im Kopf wieder rauskommt, die man drinnen gesehen hat. Meistens habe ich eine ganz andere Ausstellung genossen als meine Begleiter. Und jedes Mal frage ich mich, wofür haben die eigentlich ihren Eintritt bezahlt?

Es ist nicht einfach, als zweites von fünf Kindern aufzuwachsen. Und dann auch noch in einer Familie, in der die Eltern im eigenen Betrieb fast rund um die Uhr beschäftigt sind. Denn Vater und Mutter führten ein Restaurant mit einer Metzgerei, wo sie von morgens um 8 Uhr bis oft weit über Mitternacht auf den Beinen waren. Ja, meine Eltern wussten, was arbeiten bedeutet. Und ich bin ihr Sohn.

Im appenzellischen Trogen aufgewachsen, bin ich von der Hügellandschaft und dem barocken Charakter meines Heimatdorfes schon von klein auf geprägt worden. Die Paläste der Zellweger-Dynastie, die wie Zuckerwürfel um den Dorfplatz verteilt sind, und die Hanglage des Dorfes strahlten für mich schon immer eine Weltoffenheit aus, die ich mit Kühnheit und viel Fantasie erobern wollte.

Mein Eroberungsfeldzug hat mich zwar nur bis nach Zürich gebracht, doch mit der Sprache bin ich schon durch alle Jahrhunderte und Kontinente mäandert und habe Geschichten gefunden und erfunden. Heute arbeite ich als selbständiger Texter für Werbung, Editorial, Private und Unternehmen.

Zudem verbinde ich mit meinem Textil-Label «Cushion Library» Design mit Storytelling in Form von Kissengeschichten aus 100% Seide, gefüllt mit Daunen und Poesie.

Und ich freu mich sehr, meine Erzählungen und Erfahrungen hier mit Ihnen zu teilen.

Christian Schirmer sagt:

Vielen herzlichen Dank, liebe Gerda-Marie. Ich freue mich und fühle mich geehrt; nicht nur in meiner Kunstbeflissenheit.

Gerda-Marie Adenau sagt:

Lieber Christian, toll geschrieben. Beim Museumsbesuch mag ich besonders den Moment, wenn das Bild oder das Objekt MICH anschaut und einen Dialog mit mir beginnt. Wenn ich von der Betrachtenden zur Betrachteten werde – und wieder umgekehrt. Ich liebe dieses stumme Wechselspiel.

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