Altern – eine existenzielle Erschütterung

Altern – eine existenzielle Erschütterung

Durch die Menopause bin ich ohne grosse Aufregung gegangen. Gewissenhaft habe ich einige finanzielle, berufliche und persönliche Vorkehrungen für mein Alter getroffen. Und ich behaupte von mir, dem Leben meist tapfer und zuversichtlich ins Auge zu blicken. Aber nichts davon hat mich auf diese zunächst schleichende, dann disruptive Erfahrung meines eigenen Alterns vorbereitet.

Da ist zunächst die körperliche Selbstentfremdung. Der Moment, als ich beim Blick in den Spiegel mit Schrecken feststelle: Dieses Gesicht, diese Hände, dieser ganze Leib – das bin doch nicht mehr ich. Ich will die Hülle meines gealterten Körpers abstreifen, will wieder ich selbst sein. Aber ich muss feststellen: Aufbegehren ist sinnlos – dieses falsche und fremde Ich ist mein wahres Ich, mit dem ich weiterleben muss.
Tiefer noch greift das Erschrecken über die Veränderung meiner Persönlichkeit. Ich habe mich geändert, ohne dass ich es wollte. Ich bin träger geworden. Ich bin meinem wachsenden Heisshunger hilflos ausgeliefert. Wo ist bloss meine gewohnte Selbstdisziplin hin? Vor allem der Verlust an Willenskraft ist es, der mich existenziell erschüttert.
Und drittens ist es die Reduzierung von Möglichkeiten, die mir zu schaffen macht. Mit Mitte 50 habe ich einen Grossteil meines Lebens gelebt – die Zeit ist unwiderruflich dahin. Meine Lebensentscheidungen haben sich verfestigt, ordentlich dokumentiert in meinen biografischen Daten. Vor allem im beruflichen Kontext werde ich nur noch angesehen als die, die ich geworden bin, nicht mehr als die, die ich sein könnte. Entweder habe ich diesen Karriereschritt gemacht oder nicht. Was ich bis 50 nicht erreicht habe, das werde ich danach erst recht nicht mehr erreichen.

Altern – das sind permanente Erfahrungen des Verlustes. Doch gibt es dem Älterwerden nicht auch etwas Positives abzugewinnen? Und ob! Altern bedeutet: Ich lebe! Das erfüllt mich mit tiefster Dankbarkeit. Ein Zuwachs an Jahren kann auch wachsenden Reichtum mit sich bringen – an Kompetenz, Freiheit und Kreativität.

Zuwachs an Kompetenz: Forschungen zeigen, dass im Alter zwar einige Fähigkeiten ab-, andere aber auch zunehmen können. Hierzu gehört faktisches und prozedurales Wissen (z.B. verbale Fähigkeiten, Sprachkompetenz), Weisheit, Erfahrung, Sorgfalt, Urteilsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Motivation, Arbeitsethik, Loyalität, Überblick bei komplexen Problemstellungen, Risikoeinschätzung. Im Laufe meines Lebens habe ich jedenfalls so manche Lektion gelernt und eine Reihe von Fähigkeiten entwickelt, die mir helfen, mein berufliches und privates Leben zu meistern und sinnvoll zu gestalten.

Ein Mehr an Freiheit. 17 Jahre lang war ich alleinerziehend und alleinfinanzierend. Die Verantwortung lastete mitunter schwer. Mittlerweile sind die Kinder aus dem Haus. Sie brauchen zwar noch meine finanzielle Unterstützung, aber ein Ende ist absehbar. Das eröffnet mir neue Freiräume. Für Herzenzsprojekte, für Experimente oder einfach nur dafür, zu meinem mir fremd gewordenen Ich eine neue Beziehung aufzubauen.

Wachsende Kreativität. Kreativität entsteht, wenn sich starke Gefühle mit neuen Ideen des Ausdrucks verbinden. Älter werden geht bei mir einher mit einer wachsenden Sehnsucht. Diese Sehnsucht zu erkunden und ihr zu folgen und dabei mit neuen Formen des sprachlichen Ausdrucks zu experimentieren, finde ich aufregend. Wundert Euch also nicht, wenn in manchen meiner Texte geflügelte Wesen durch die Geschichte spazieren.

Also alles im Lot? Ganz und gar nicht! Bei mir jedenfalls nicht. Altern fühlt sich für mich verstörend, bereichernd, beängstigend, euphorisch an. Manchmal alles gleichzeitig. Aber vielleicht geht es ja auch gar nicht darum, das Altern zu bewältigen. Sondern darum, uns der inneren und lebendigen Selbstbewegtheit anzuvertrauen.

Und nun bin ich neugierig: Wie erlebt Ihr das Leben jenseits der 50? Ich freue mich auf Eure Kommentare.

Mein erster Lebens- und Bildungsweg führte mich von meinem kleinen Eifeldorf bis zur Kreisstadt. Mit 19 war ich ausgebildete Bankkauffrau – ich war am Ziel meiner beruflichen Träume angekommen! Doch da war so eine Sehnsucht in mir, eine Sehnsucht nach Lernen und Denken und Erfüllung.
Auf dem Köln-Kolleg holte ich mein Abitur nach. Neben der Schule zog ich durch Museen, gab mein ganzes Geld für Theater-, Ballett-, Konzertbesuche aus und lernte jede Menge aufregender Leute kennen. Weiter ging's nach München zum BWL-Studium. Erster Job in einer Unternehmensberatung.
9 Jahre später, verheiratet, Mutter einer 12 Monate alten Tochter, nach der Elternzeit den Job verloren, und wie von Zauberhand fand ich mich in einem Konzern wieder. Zweites Kind, Scheidung, alleinerziehend. Ein Wimpernschlag später: die Kinder aus dem Haus, den Job im Griff. Zeit, einen Gang zurückzuschalten. Oder ein Philosophiestudium zu beginnen.
Und so wandle ich derzeit auf dem dritten Bildungs- und Lebensweg. Manchmal hadernd ob der Kürze der Zeitspanne, die noch vor mir liegt. Manchmal zornig, wenn ich mal wieder die unsichtbare Altersdiskriminierung spüre. Und immer wieder neugierig, was mir diese spannende Phase von Mitte 50 bis Mitte 60 noch alles bringen wird. Darüber möchte ich schreiben. Meine Geschichten sollen eine Brücke bauen vom Ich zum Du, sie sollen Impulse geben, neue Perspektiven aufzeigen und zum Debattieren anregen.

Loring Sittler sagt:

Ganz wunderbar der Text – alle Dimensionen zutreffend beschrieben, auch aus der Sicht eines Mannes, so groß sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern am Ende nicht. Wundere mich nur, warum dieser Titel gewählt wurde. Der Weg des Lebens wird zuversichtlicher und mit weniger eigenen Bremsen gegangen, erst recht im Alter. So muss es sein! Die „Erschütterung“ führt zur Festigung der Ausgangsbasis und der Ressourcen, die aufgerufen werden können, der bevorstehende Weg der Wünsche wird klarer – und herausfordernder. So muss es sein, sonst wäre es nicht wünschenswert. Weiter so!

Gerda-Marie Adenau sagt:

Ganz herzlichen Dank für dieses Feedback. Dann werde ich mal weiter schreiben. Über Frust & Lust des Älterwerdens.

Marlies sagt:

Liebe Gerda-Marie,

den Prozess des „alterns“haettest Du treffender nicht beschreiben können,danke dafür!
Ganz anders noch als meinem 50.Geburtstag stand ich dem 60.gegenueber…unausweichlich(zum Glück)aber auch erschreckend zugleich.
Nun stelle ich fest es ist am einfachsten zu haendeln das bis dahin erlebte,mit all seinen Facetten,positiven wie negativen ,zu akzeptieren und den noch kommenden Jahren mit den Erfahrungen der Vergangenheit, offen mit Freude u Elan entgegen zu sehn.Da ist noch so viel was es zu erleben und entdecken gibt…und oftmals wenn ich in mich hinein horche finde ich es wieder,das Kind von früher.
Solange das so ist,ist alles gut!

Gerda-Marie Adenau sagt:

Liebe Marlies, „wen ich in mich hinein horche, finde ich es wieder, das Kind von früher.“ Das hast Du schön gesagt. Als Kind habe ich mir versucht, mich als „alte“ Frau von 25 vorzustellen. Ich fragte mich, wie es wohl sei, erwachsen zu sein. Und wer denn dann dieses erwachsene ICH wohl sein würde. Ob ich dann immer noch ICH sein würde. Manchmal winke ich dem Mädchen von damals zu: „Schau, hier bin ich. Und Du bist immer mit dabei.“ Dann freut es sich.

Melanie sagt:

Danke Gerda-Marie, dass du uns an deinem Leben, deinen Gefühlen und Gedanken teilhaben lässt. Das schafft Mut, Verbindung und Lust auf Mehr.

Gerda-Marie Adenau sagt:

Danke schön, liebe Melanie, für Deine Ermutigung. Dann mach ich mal weiter … mit dem Schreiben und dem Leben …

Katharina sagt:

So kenn ich Dich meine Liebe: am Ende ist immer alles gut u Du bist an deinen Erfahrungen, gut oder schlecht, gewachsen. Ich finde es wunderbar, dass Du nun all den vielen Erlebnissen die Zeit hast und ein wunderbares Outlet gefunden hast, deinen virtuosen Umgang mit Worten der Welt kund zutun. Freu mich auf die nächste Geschichte…
Keep dancing K.

Gerda-Marie Adenau sagt:

Ja, liebe Katharina, The Silver Magazine gefällt mir auch – ein bunter Mix an Bloggern und Geschichten – und super schöne Illustrationen. Gute Heimat!

Helena Rinderknecht sagt:

Liebe Gerda
Mit Freude bin ich durch deinen Text geflogen 😊 es tut gut zu erfahren, wie andere Frauen die 50er erleben. Jede trägt ihren eigenen Rucksack an Vergangenem, wohl jede blickt auf ihre Art der Zukunft entgegen und wir alle haben das Glück gegenwärtig zu sein. Die Gegenwart hat bei mir mit dem Älterwerden eine ganz neue Kraft erhalten. Ein Geschenk, das ich zuvor nicht wirklich kannte. Bin gespannt und freudvoll auf das, was da noch alles kommt 😉
Liebe Grüsse
Helen

Gerda-Marie Adenau sagt:

Liebe Helen, Du sagst es, die Gegenwart wird kostbar.
Herzlichst
Gerda-Marie

Sabine sagt:

Liebe Gerda-Marie,
Danke für deinen Mut, hier so offen und ehrlich deine Erfahrungen mit uns zu teilen und die vielen Denkanstöße und Impulse.
Ich bin kurz vor der 50-er Schallgrenze und ganz gespannt, was das Überschreiten so mit mir machen wird. Was ich schon jetzt deutlich spüre ist, dass ich nicht mehr nur produktiv sondern sinnstiftend arbeiten will, meine Erfahrung an die jüngere Generation weitergeben und mir deren Kenntnissen in anderen Bereichen abschauen möchte.
Ich bin schon sehr gespannt auf deine nächsten Artikel.

Gerda-Marie Adenau sagt:

Liebe Sabine, ja, der Generationendialog. Hatte gestern meine letzte Sitzung des „Reverse Mentoring“ und habe eine Menge darüber gelernt, wie ein 23jähriger ältere Kolleg:innen erlebt. Werde darüber berichten.

Linda Bosse sagt:

Liebe Gerda-Marie,
wunderbar, an Deinen Gedanken und Gefühlen teilhaben zu dürfen. Es fühlt sich so an, als würdest Du direkt neben mir sitzen und den Text erzählen.Wieder mutige, inspirierende Worte von Dir, die in mir nachhallen… In Vielem finde ich mich wieder – wo ist bloß die Disziplin geblieben? Habe letztens auf Youtube eine Spot gesehen, in dem ein ca. 5 Jahre altes Kind mit einer 102 Jahre alten Professorin sprach. Diese war geistig absolut auf der Höhe und zudem wunderbar positiv gestimmt. Die Aussage des Kindes: „You are really good at being old!“ Das fand/finde ich klasse! Da wollen wir hin!

Gerda-Marie Adenau sagt:

Liebe Linda, ich freue mich so, dass Dir mein post gefällt. Das Älterwerden hat ja viele Aspekte. Bin selber schon gespannt, welche Geschichten noch so alle erzählt werden wollen.

Christine sagt:

Liebe Gerda-Marie,
vielen Dank für Deine Anregung zur Entdeckungreise zu Sinn und Ziel mit dem „fremd gewordenen Ich eine neue Beziehung aufzubauen“ … Die Art wie Du über Deine interne und externe Veränderungen nachdenkst sind hilfreiche Ansätze. Du inspirierst und gibst Mut. Danke!

Gerda-Marie Adenau sagt:

Liebe Christine, manchmal liegen wir schon arg im Clinch – die Marie von früher und die von heute. Manchmal umarmen sie sich auch. Ganz vorsichtig. Fühlt sich ja noch fremd an.

Christine sagt:

Liebe Gerda-Marie,
Vielen Dank für die geflügelten Wesen, die mir mit Schalk in den Augen zuzublinzeln scheinen – Deine Worte machen mich neugierig auf all das, was noch vor uns liegt!

Angelika Kindt sagt:

Danke liebe Gerda-Marie, ich werde dieses Jahr 72…. und lebe glücklich und mit immer neuen Zielen und Aufgaben ein erfülltes Leben. Um meinen 60. Geburtstag herum fand ich es auch noch erschreckend, dass das Alter an die Tür klopft.
Ich habe für mich nicht nur viel faktisches aus der jetzt so aktuellen Altensforschung gelernt… nämlich dass ich eine junge Alte bin… ich stehe zu meinem Alter. Für mich hat das Alter viel mit Bildern zu tun, aber auch mit persönlichen Einstellungen und einer Haltung.
Genauso werde ich auch von jüngeren Kunden wahr genommen und geschätzt. Genau das bestärkt meine Haltung!
Nach einer überstandenen Krebserkrankung geht es mir blendend… ich bin im Kopf topfit, digital auf vielen Kanälen unterwegs, mache täglich meinen Sport und mag mich so, wie ich bin.. eine working silverlady!!!!

Gerda-Marie Adenau sagt:

Liebe Angelika, Du hast meine vollste Bewunderung, und ich folge Dir in den Social Media Kanälen mit großer Aufmerksamkeit. Mach weiter so!

Nina sagt:

Liebe Gerda-Marie,
so wunderbar berührend dein Lebensweg und gleichzeitig Mut machend geschrieben. Ich schaue auf dein Foto und bin voller Bewunderung für diese starke Frau, die bestimmt auch mal ganz und gar nicht stark war und trotzdem stark sein musste. Ich spüre deine Energie aus diesem Text. Eine Energie die auch sagt, jetzt komm ich. Die sich Sachen erlaubt, die sie sich vorher möglicherweise untersagt hatte. Damit inspirierst du und wirfst einen ganz neuen Blick auf das älter werden. Danke!!

Gerda-Marie Adenau sagt:

Liebe Nina, herzlichen Dank für dieses wunderbare Feedback, das mir Mut macht. Bald gibts mehr!

Leave a comment :