Tête-à-Tête mit Kairos

Tête-à-Tête mit Kairos

Als Kind dauert ein Jahr eine gefühlte Ewigkeit. Mit zunehmendem Alter rast uns die Zeit hingegen davon. Ich bin Ende 50. Meine Zeit ist vergangen, sie ist einfach weg. Die Lebensspanne, die mir noch bleibt, ist deutlich kürzer als diejenige, die vorbei ist. Chronos, der griechische Gott des linearen Zeitablaufs, ist unerbittlich: Sekunde um Sekunde, Stunde um Stunde. Lange Zeit hat dieser Chronos mein Leben bestimmt. Ich lebte immer nach der Uhr, stets bemüht, alle beruflichen und familiären Anforderungen in den eng getakteten Zeiteinheiten zu erfüllen. Doch mittlerweile hat Chronos einen starken Gegenspieler in meinem Leben gefunden: Kairos, der Gott der qualitativen Zeit. Kairos steht für die Gegenwart mit ihren Gelegenheiten, für den rechten Augenblick, für den besonderen Moment, den es wahrzunehmen und zu nutzen gilt. Mit Kairos führe ich eine ganz besondere Beziehung. Lest selbst:

Es war einer jener seltenen Abende, die ich so liebe: Zur blauen Stunde, kurz vor dem Eintreffen der Dunkelheit, lag ich mit Kairos auf der Couch und schlürfte ein Gläschen Crémant.

«Erzähl mir von deinen Träumen, Liebes.»

«Ich würde so gerne noch einmal für ein paar Monate im Ausland leben.»

«Erzähl mir mehr darüber.»

Und so erzählte ich. Von meinem intellektuellen Abenteuer des berufsbegleitenden Philosophiestudiums, von der Befriedigung des Lernens, der Sehnsucht nach mehr und dass ich so gerne ein Semester lang im Ausland studieren wolle. Kairos hörte mir aufmerksam zu. «Wo genau willst du studieren?» wollte er wissen, während er zärtlich meinen Nacken kraulte. «Ich will nach Polen.» «Nach Polen? Tatsächlich?» «Ja, nach Polen.»

Jetzt war Kairos hellwach: «Was brauchst du denn dafür?»

«Am einfachsten würde es über ein ERASMUS-Stipendium gehen, aber meine Uni ist nicht ERASMUS-Mitglied.»

«Hmh, und was noch?»

«Meine Chefs müssen natürlich mitspielen. Sie müssen mich für vier Monate remote arbeiten lassen und zwar nur Teilzeit.»

«Sonst noch etwas?»

«Nein, alles andere bekomme ich selbst geregelt.»

«Wir werden sehen, Liebes», grinste er mich an. «Aber jetzt muss ich los.» Und schon begann er, um mich herum zu tänzeln. Ich seufzte. Mein Kairos. Immer unterwegs. Süsse kleine Flügel waren ihm an den Füssen gewachsen, die ihn fliegen liessen wie der Wind. Unser Tête-à-Tête war für heute beendet – wann würden wir uns wohl wiedersehen?

Wenige Wochen später verkündete die Hochschule, sie sei ERASMUS-Partner geworden und die ersten Studierenden könnten im Herbst ins Ausland. Mit klopfendem Herzen öffnete ich die Liste der Partneruniversitäten. Das Ignatianum in Krakau.

Aufmerksam las ich die Bewerbungsbedingungen – da stand nichts von einer Altersbeschränkung. Ich bewarb mich. Und erhielt die Zusage.

Nun noch das Gespräch mit meinem Chef. Ich bereitete mich argumentativ gründlichst vor. Was gar nicht nötig gewesen wäre. Er gratulierte mir herzlich zu meinem Stipendium und erklärte sich mit einer vorübergehenden Änderung meines Arbeitsvertrages sofort einverstanden.

Ende September 2019 zog ich als Erasmusstudentin nach Krakau. Ich war 57 Jahre alt.

Trunken vor Glückseligkeit stand ich Silvester 2019 auf der Fußgängerbrücke über der Weichsel und blickte suchend in den Himmel. Da!

Mein erster Lebens- und Bildungsweg führte mich von meinem kleinen Eifeldorf bis zur Kreisstadt. Mit 19 war ich ausgebildete Bankkauffrau – ich war am Ziel meiner beruflichen Träume angekommen! Doch da war so eine Sehnsucht in mir, eine Sehnsucht nach Lernen und Denken und Erfüllung.
Auf dem Köln-Kolleg holte ich mein Abitur nach. Neben der Schule zog ich durch Museen, gab mein ganzes Geld für Theater-, Ballett-, Konzertbesuche aus und lernte jede Menge aufregender Leute kennen. Weiter ging's nach München zum BWL-Studium. Erster Job in einer Unternehmensberatung.
9 Jahre später, verheiratet, Mutter einer 12 Monate alten Tochter, nach der Elternzeit den Job verloren, und wie von Zauberhand fand ich mich in einem Konzern wieder. Zweites Kind, Scheidung, alleinerziehend. Ein Wimpernschlag später: die Kinder aus dem Haus, den Job im Griff. Zeit, einen Gang zurückzuschalten. Oder ein Philosophiestudium zu beginnen.
Und so wandle ich derzeit auf dem dritten Bildungs- und Lebensweg. Manchmal hadernd ob der Kürze der Zeitspanne, die noch vor mir liegt. Manchmal zornig, wenn ich mal wieder die unsichtbare Altersdiskriminierung spüre. Und immer wieder neugierig, was mir diese spannende Phase von Mitte 50 bis Mitte 60 noch alles bringen wird. Darüber möchte ich schreiben. Meine Geschichten sollen eine Brücke bauen vom Ich zum Du, sie sollen Impulse geben, neue Perspektiven aufzeigen und zum Debattieren anregen.

Rebekka sagt:

liebe Gerda
ja, Kairos ist wundervoll!
Was für ein Tausendsassa und glücklicherweise lebt er die freundliche Polyamorie und hat immer Zeit für alle, die ihn erwarten..
Danke für den schönen Post.
Ich hoffe wir lernen uns time being persönlich kennen.
Rebekka

Gerda-Marie sagt:

Liebe Rebekka, herzlichen Dank für Deine liebe Rückmeldung. Ja, Kairos ist schon ein spezieller Freund. Er arbeitet gerade mit mir an einem vierwöchigen Aufenthalt in der Schweiz. Falls Du eine Wohnung für zwei Personen weißt, …
Herzlichst
Gerda-Marie

Tobias Leisgang sagt:

Schöne Grüße an deinen Kairos. Meiner hat gerade fleißig mitgelesen. Wir beide waren begeistert von deinen Zeilen und haben uns mit verschmitztem Lächeln angeschaut. Am Wochenende reden wir mal wieder über Träume.

Gerda-Marie sagt:

Lieber Tobias, lass mich wissen, was dabei raus kam.

Angela sagt:

Liebe Gerda-Marie,
danke für Deine kurzweilige charmante Inspiration! – und die Vorstellung von Kairos 😉

Gerda-Marie sagt:

Danke Dir, liebe Angela, demnächst gibt´s mehr. Über Kairos. Und über seien Freunde.

Kim sagt:

Ganz phantastisch und doch so real! Danke! Lese sehr gerne mehr!
Alles Liebe
Kim

Gerda-Marie sagt:

Danke, liebe Kim. Der nächste Artikel über Kairos und seine Gang ist in Arbeit.

Christine Erlach sagt:

Liebe Gerda-Marie,
Dein Tête-à-Tête mit Kairos lässt mich mit einem gewissen Schalk im Blick jetzt gleich, nach diesen Zeilen hier, den PC ausschalten und lächelnd in den schneeverhangenen Himmel schauen: eine Wohltat, mir mal ein paar Momente an Zeit ohne Plan zu gönnen, die Leere zu umarmen und mich darauf einzulassen, welcher Gedanke, welche Idee, welches Gefühl wohl zuerst vorbeihuscht, um mich unter dem Schneehimmel zu besuchen. Danke Dir für Deine wundervollen Zeilen!

Gerda-Marie sagt:

„Die Leere zu umarmen.“ Schön gesagt, liebe Christine.

Melanie sagt:

Gerda-Marie, ich liebe deine Art zu Schreiben. Mit deinen lebendigen Bildern und ehrlichen Worten und Gefühlen ziehst du mich immer wieder in den Bann. Ich fühle mich in der Geschichte gleich mit dir verbunden und finde deinen Weg sehr inspirierend, gerade von dem Punkt aus gesehen, an dem ich stehe mit Anfang 30 🙂 Danke dir!

Gerda-Marie sagt:

Liebe Melanie, hab herzlichen Dank. Das Kompliment gebe ich gerne zurück. Deine Artikel in Linked-In über Dein Sabbatical sind spannend, berührend und lehrreich zugleich.

Mihai Moldoveanu sagt:

Toll geschrieben! Lieben Gruss!

Gerda-Marie sagt:

Danke Mihai, so hatte ich noch nie geschrieben. Ich war sehr gespannt, wie der Beitrag ankommt. Dein Feedback macht mir Mut.

Sabine sagt:

Grandios geschrieben, liebe Gerda-Marie! Kairos ist seit langem mein Weggefährte. Die Quantenphysik hat seine Existenz und Effizienz inzwischen sogar nachgewiesen!

Gerda-Marie sagt:

Davon, liebe Sabine, musst Du mir unbedingt mehr erzählen.

Manuela sagt:

Ach Gerde, wie schön, dass wir reconnecten und Du mir Deinen Kairos vorgestellt hast. Ich kann das so gut nachvollziehen: die Sehnsucht und die Neugier. Mir geht es ähnlich und doch ganz anders. Ich sage meinem „Kairos“ die Rahmenbedingungen und lass mich überraschen. Es bleibt spannend. Danke für’s Teilen und danke für’s Zuhören xx

Gerda-Marie sagt:

Liebe Manuela, Du glaubst nicht, wie sehr mich Deine Rückmeldung freut. Gerne demnächst mal „live“ – zumindest virtuell.

Cordula sagt:

Nach dem Lesen dieser Zeilen sehe ich die kleinen aktuellen Herausforderungen nur noch als Miniatur- DANKE für diesen Perspektiv- Wechsel 🙂

Gerda-Marie sagt:

Liebe Cordula, es freut mich so, dass Dir der Beitrag gefällt. Ich war recht unsicher, weil ich noch nie über Kairos geschrieben hatte.

Linda Bosse sagt:

Uff, liebe Gerda-Marie Adenau: Was für eine fantastische Initiative! Und der Artikel: Leichtfüssig lächelnd und gleichzeitig fesselnd schwebt er in meinen Morgen und gibt dem Tag einen wunderbaren Start – und nicht nur diesem! Freu‘ mich auf die nächsten Kapitel…

Gerda-Marie sagt:

Herzlichen Dank, liebe Linda. Vielen Dank für Deine Rückmeldung. Leicht und gleichzeitig fesselnd – ja, das ist mein Anliegen. Geht das auch mit schwierigen Themen? Das versuche ich gerade herauszufinden. Demnächst mehr …

Angelika sagt:

Deine Geschichten berühren mich sehr, zumal ich manche Deiner Zeitscheiben, Deiner Überlegungen und Deiner Wünsche zeitnah miterleben durfte.
Wie bin ich froh Dich als Freundin zu haben. War das wohl auch Kairos?
Kairos war auch bei mir schon oft zu Gast und brachte mir wertvolle Geschenke. Nun bin ich über 60 und brauche gefühlt nicht mehr viel Neues, bin doch dankbar über Vertrautes, Gebrauchtes, Geschätztes und den liebevollen Blick darauf. Sicher ist auch das ein Geschenk von ihm…?
Aber Kairos, nicht falsch verstehen: ich bin weiterhin bereit für manche Abendteuer, gerne second hand und ab und an was Neues ( wie das neue Wohnmobil).
Bitte, Gerda, mehr von deinen Geschichten, die mich ins Nachdenken und zum Lächeln bringen.

Gerda-Marie sagt:

Liebe Angelika, ja, Du hast viele meiner Geschichten miterlebt. Manchmal aus der Ferne, manchmal hautnah. Demnächst schreiben wir mal was zusammen: Über Dein Leben mit und im Wohnmobil, über Deine Geburtstagsrunden, über Deine Arbeit, über das Leben mit einem „Frührentner“. Wirst sehen, das wird lustig.

Kirsten Grauhan sagt:

Liebe Gerda-Marie,
vielen Dank für diese schöne Geschichte… darum geht es doch…. Zeit wird immer kostbarer !
Die Zeit, die uns verbleibt, dürfen wir zunehmend selbst gestalten, was für ein Geschenk!
Wir dürfen uns überlegen, welche Sehnsucht uns noch wohin treibt. Und wir dürfen es äußern und wir können es umsetzen. Weil wir mittlerweile wissen wie wir vorgehen müssen, um uns unsere Wünsche zu erfüllen, wie verheißungsvoll ist das doch. Wie schön und hoffnungsvoll dürfen wir in die Zukunft blicken. Eine Zukunft mit immer mehr dieser wundervollen Momente von uns (oder von Kairos) für uns.
Alles Liebe Kirsten

Gerda-Marie sagt:

Liebe Kirsten, „.. welche Sehnsucht uns noch wohin treibt.“ Ja, das frage ich mich auch. Muss mal darüber nachdenken. Danke für Deine liebevolle Rückmeldung.

Katharina sagt:

This is a perfect way to explain the „law of attraction“ call it what you want: „Kairos“ is wonderful. Just hang out at your Couch and dream it up, paint it in all colors and it will come along!
Much love K.

Gerda-Marie sagt:

Dear K. … and who told me all the latest, inspiring stories about change and love and do-what-you-can-do? Thank you for being such a good friend.

Cocolina sagt:

So wunderbar geschrieben ! Toll !! Welch Inspiration !

Gerda-Marie sagt:

Danke schön, liebe Cocolina. Mit Dir als Freundin …

Egon Meusel sagt:

Eine aufrüttelnde Erzählung in der bleiernen Zeit von Covid. Die Zeit drängt; die 60 habe ich lange schon überschritten, es zieht mich hinaus, ich will endlich dahin fahren, wohin ich immer schon wollte. Ehrlich gesagt, war es nicht die Pandemie, die dieser Sehnsucht entgegenstand; es war schlicht Trägheit!
Qualitative Zeit zu erleben bedarf es, und das zeigt mir diese Geschichte, Mut, den Augenblick zu nutzen, Offenheit gegenüber der Möglichkeit und sei sie – in den Augen der Mitwelt – weder altersgemäß noch überhaupt realisierbar. Den Aufruf des sapere aude in Lebenswirklichkeit übersetzen – das stimmt mich für die kommenden Wochen und Monate hoffnungsvoll. Ich danke Kairos und seiner treuen Freundin!

Gerda-Marie sagt:

Lieber Egon, so, so, die Trägheit! Na, jetzt kennst Du ja mich. Und Kairos. Wir beide werden schon dafür sorgen, dass es nicht bei der Offenheit der Möglichkeit bleibt, sondern sie auch umgesetzt werden.

Nina Eichholz sagt:

Einfach nur wunderschön!
Liebe Gerda-Marie, du zauberst mir ein breites Lächeln ins Gesicht! So mitreißend geschrieben und dann dieses Happy End! Motivierend, mitfühlend, begeisternd, beeindruckend! Einfach nur Danke für deine Geschichte!!

Gerda-Marie sagt:

Gerne, liebe Nina, und meinen allerherzlichsten Dank fürs „Probelesen“ vor der Veröffentlichung. Ist ja eine ganz neue Art des Schreibens für mich.

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