Draculas Wächter

Draculas Wächter

In einer Serie erzählt unser Autor Matthias Mächler von seinen Erlebnissen als Reisereporter. Teil 1: Transsilvanien.

Dracula ist eine Erfindung des irischen Schriftstellers Bram Stoker, und der war nie in Transsilvanien. Es gibt also keine Originalschauplätze, die man besuchen könnte. Aber es gibt Orte, an denen der gefürchtete Walachen-Fürst Vlad Tepes gewirkt hatte, auf den Bram Stoker seinen Dracula bezog. Zum Beispiel eine Burgruine auf einem Hügel irgendwo in den weiten wilden Wäldern der Karpaten.

Natürlich erklommen wir damals diesen Hügel – und waren enttäuscht. Ein paar verfallene Steinmäuerchen, sonst nichts. Jede Schweizer-Familie-Feuerstelle macht mehr her. Doch Marcel, der Fotograf, fand: Nachts, ja nachts, da kann man diesem Ort bestimmt eine draculeske Ausstrahlung abgewinnen, im Idealfall genau um Mitternacht.

Echt jetzt? Ein aufgeblitzter Steinhaufen vor schwarzem Nichts? Ich fand die Idee mässig lässig. Doch was blieb mir übrig? Es galt, so viel Material wie möglich heimzubringen. Also fuhren wir, um uns aufzuwärmen, in unsere Unterkunft zurück und ein paar Stunden später wieder zum Ruinenhügel. Auf den unbeleuchteten Holperstrassen war es derart dunkel, dass man erschrak ob jedem Baum am Strassenrand, der seine Gichtfinger den Autolichtern entgegenreckte.

Vielleicht muss ich hier noch erwähnen, weshalb wir überhaupt erst auf diese Reportage in Transsilvanien kamen. Ich hatte zufällig Stokers «Dracula» gelesen. Am Ende des Buches sind die Jäger dem Vampir dicht auf den Fersen. Die Sonne senkt sich, der Anführer sagt: «Wir müssen uns beeilen und ihn erwischen, bevor es dunkel wird. Sonst legt er sich für 100 Jahre zu Ruhe…» Tatsächlich war der Roman genau 99 Jahre zuvor geschrieben worden. Was also, wenn es Dracula tatsächlich geschafft hatte?

Diese steile These verschlug Marcel und mich nach Transsilvanien, wo wir Sargschreiner besuchten, Schäfer, Vertreter der Dracula Society, ein Touristenschloss und historische Orte wie den Ruinenhügel, dem zu Füssen wir jetzt in dieser stockdunklen Nacht das Auto parkierten. Wir schulterten das Equipment – und erschraken fürchterlich. Vor uns stand, wie aus dem Nichts, ein grosser, zottiger, misstrauischer schwarzer Hund. Weit und breit keine Menschenseele, das Tier schien niemandem zu gehören.

Ein bisschen mulmig war uns schon, als wir den Hügel hochstiegen und der Hund uns folgte. Aber wir waren auch froh, war er da, denn von weitem hörten wir die Wölfe der Karpaten heulen. Sollten sie näher kommen, würde der Hund ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder uns zumindest warnen. Hofften wir jedenfalls und stellten oben in der Ruine Kamerastativ und Licht auf. Dann zerstückelten wir unseren Proviant und warfen ihn dem Hund zu, auf dass er mit gierigem Schlund danach sprang – Blitz! Spoiler: Nicht ein einziges Foto gab am Schluss was her. Aber das wussten wir damals nicht: Es war noch die Zeit der analogen Fotografie, die ihre Geheimnisse erst im Labor offenbarte.

Irgendwann machten wir uns durchfroren auf den Abstieg. Die Wölfe heulten, die Nacht schien die Konturen vollends zu verschlucken, der Hund wich nicht von unserer Seite. Unten beim kleinen Parkplatz verstauten wir das Equipment im Kofferraum, schlossen ihn und wollten uns mit einem letzten Wurststück vom Hund verabschieden – doch der war weg. Lautlos. Plötzlich. So wie er gekommen war.

Oder ganz so, wie wir uns einen Wächter vorstellten, der an Draculas Gruft aufpasst, dass keine ungebetenen Gäste den Fürst der Finsternis beim hundertjährigen Nickerchen stören.

 

Manchmal wird man vom Glück geküsst: Bei mir geschah dies auf der Redaktion der Schweizer Familie, die sich in den Neunzigern als Reportage-Magazin verstand und uns jungen Wilden mit besten Fotografen und lustigen Themen um die Welt schickte. Später wurde ich Reisereporter und Kolumnist bei der annabelle, bevor ich den Sprung in die Selbstständigkeit wagte – und mich das Glück abermals knutschte: Für meine Geschichten wurde ich mit dem Swiss Text Award und den Swiss Media Award ausgezeichnet.

Das schien mir der richtige Moment, um mir ein Mahnmal gegen meine Selbstzweifel anzuschaffen. Ich betrat ein Uhrengeschäft, und sofort war da dieser Reflex: die Faszination von Altem, Gebrauchtem. Von Dingen mit Geschichte. Die Verkäuferin redete mir die 1970er Vintage-IWC mit dem hellblauen Zifferblatt wieder aus: «Wenn es Ihre erste Uhr ist, fahren Sie mit einem Klassiker besser; sparen Sie sich die Eskapaden für später.» Die silbrig-schwarze Rolex Datejust, die ich heimtrug, stellte Erstaunliches mit mir an: Ich verfiel dem Wesen Uhr grundsätzlich, verschlang Bücher, abonnierte Magazine, recherchierte mich durchs Netz, blieb an Schaufenstern kleben und schaute selbst einer attraktiven Frau statt in die Augen fast lieber aufs Handgelenk.

Seit nunmehr über zehn Jahren verantworte ich unter anderem das beyond Magazin der Beyer Chronometrie, für das ich die Grossen der Branche interviewe, mindestens so fasziniert bin vom unglaublichen Können einfacher Uhrmacher und mich ganz grundsätzlich mit den Facetten der Zeit auseinandersetze. Davon berichte ich auf dieser Plattform – und wage zwischendurch einen anekdotischen Zeitsprung zurück in die Welt von damals, als man als Reporter noch richtige Abenteuer erleben durfte.

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