Marseille, du Unaufgeregte

Marseille, du Unaufgeregte

Wir brauchen sie alle, die Entschleunigung.
Aber meist findet man diese in der Natur und nicht in einer Stadt, zumindest ich nicht. Eine Stadt birgt so viel an Kulturprogramm, Shoppingmöglichkeiten und Freizeitaktivitäten, dass ich jeweils voller Inspiration nach Hause komme, aber meist auch etwas erschöpft. Denn die Tage und auch die Nächte sind lang. Man will meist zuviel sehen, entdecken und unternehmen. Genau das passiert mir lustigerweise in Marseille nie. Wieso kann ich nicht sagen, denn Marseille, die zweitgrösste Stadt Frankreichs, hat sehr wohl viel zu bieten. Aber das mediterrane, durch algerische Einflüsse geprägte Lebensgefühl  – in den 60er Jahren liessen sich hier zehntausende Algerienfranzosen nieder­ – in einer Stadt umgeben vom Mittelmeer trägt wohl dazu bei, den Konsumgedanken abzustreifen und den Moment auszukosten.

Die Tage ohne Programm geniessen.
Als ich im September das letzte Mal dort war, hatte ich das Glück, in einem wirklich tollen Airbnb zu wohnen, fast schon in den Calangues und mit Ausblick auf die Stadt. Der Bungalow, der wie ein Schiff her- und eingerichtet war, befand sich unmittelbar über dem Ozean. Durchs Fenster sah ich nichts als Meer. Ich sass stundenlang dort und beobachtete die Möven im blauen Himmel, die grossen Dampfer am Horizont, die Schwimmer und die Stand-up Paddler, die in der Nähe vorbeizogen. Ich fühlte mich wie Ewan McGregor alias Halston in der gleichnamigen Netflix Serie, der am Ende seiner Tage wochenlang auf das Meer blicken konnte und damit zufrieden war. Es ist schon verrückt, wie auch mich die Weite des Meeres beruhigen kann. Und ich hatte nicht den Drang, den ich sonst spüre, wenn ich eine Städtereise buche, sondern habe die Momente einfach nur geniessen können. Null FOMO (Fear of missing out).

Mit 49 Jahren das erste Tattoo.
Trotzdem habe ich auch etwas unternommen: Ich habe mich tatsächlich mit 49 Jahren erstmals tätowieren lassen. Ein Mikro-Tattoo sozusagen, eines, das ich eigentlich schon immer wollte, aber mich nie wagte, es stechen zu lassen. Lange auch nicht darum, weil sich rundherum alle tätowieren liessen und ich stolz darauf war, keines zu haben. Jahrzehnte später, spontan aber trotzdem ganz bewusst, tat ich es dann also doch, an einem sonnigen Morgen nach einem starken Kaffee und ich freue mich darüber. Auch darüber, dass ich es in jungen Jahren unterlassen hatte, denn nun bin ich stolz darauf, wenn mich die Leute fragen, ob ich dieses Tattoo, das am unteren Handgelenk auflblitzt, schon immer hatte und ich ihnen dann sagen kann, nein, das ist mein erstes und auch mein letztes und nein, es ist keine Jugendsünde, denn ich habe es eben erst machen lassen. Auch der Tätowierer musste etwas schmunzeln, aber ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass es kein «zu alt» für Neues gibt– es ist nur eine Frage des Mutes, die Komfortzone zu verlassen, in der man sich jahrzehntelang aufgehoben und sicher fühlte.

Zurück zu Marseille
Die Entschleunigung in den nördlichen Quartieren kann man allerdings leider lange suchen. Nach dem Lesen eines Artikels in der NZZ verstand ich auch, weshalb die halbe Stadt den Präsidenten zum Teufel schickte oder zumindest ins Gefängnis. So jedenfalls lauteten die Sprechchöre während seiner Durchfahrt durch die Hafenstrasse von Marseille, als ich im Café sass und bemerkte, dass Macron zwar aus seiner Polizei-Konvoi-begleitenden, schusssicheren Limousine winkte, aber keiner zurück grüsste. Die Sprechchöre wurden einfach nur lauter und agressiver. Die Stadt sei der grösste Drogenumschlagplatz Frankreichs und die Opfer der Bandenkriege würden immer jünger, las ich weiter. Und der Plan von Macron sei nicht durchdacht und packe das Problem nicht an der Wurzel, sondern suche nur nach einer raschen und oberflächlichen Lösung, um das Image der Stadt aufzupolieren. Mehr dazu hier: https://nzzas.nzz.ch/international/frankreich-ferienjob-drogendealer-ld.1656316

 

Meine Tipps

Wenn man in Marseille ist, sollte man die Cité Radieuse von Corbusier besichtigen. Dort gibt es ein Café (im 3. Stock, wenn ich mich richtig erinnere), eine Galerie (Rooftop), ein Hotel und auch tolle Airbnb Wohnungen. Die Aussicht auf der Dachterrasse sollte man sich auf jeden Fall nicht entgehen lassen. Man sieht von dort aus die futuristische Architektur des Stade Vélodrome von Jean-Pierre Buffi, welches das Stadtbild von Marseille aus der Vogelperspektive prägt. Ein anderes Gebäude, das das Stadtbild von Marseille bestimmt, gehört ebenfalls zu meinen Lieblingsorten in Marseille: Es ist das MUCEM mit seiner avantgardistischen Architektur und einem grossartigen Kunst- und Kulturprogramm.

Was ich aber besonders geniesse, ist das Schlendern durch kleine Gassen, ohne in einen Shoppingmood zu verfallen, ein Gläschen Rosé am Nachmittag in einem Strassencafé zu trinken und dem Treiben am Hafen zuzuschauen, das Spazieren in den Calangues und das eine oder andere Lieblingsrestaurant aufzusuchen wie «La Marine Des Goudes», «La Baie des Singes» oder die unkomplizierte, sympatische Strandbeiz «Le Cabanon de Paulette».

 

In einem 200 Seelen Dorf im Berner Oberland aufgewachsen, zog es mich immer schon in die weite Welt hinaus. Gearbeitet habe ich dann 21 Monate in New Delhi, einige Monate in Wien, Stuttgart und Genf, war on and off immer wieder in der Schweizer Hauptstadt zuhause und weilte auch länger in Texas und Paris. Dass ich nun aber doch schon fast die Hälfte meines Lebens in Zürich verbringe, hätte ich als junges Mädchen nie für möglich gehalten, denn ich fand Zürcher insgesamt zu arrogant und gleichzeitig zu provinziell. In Zürich aber habe ich mich selbständig gemacht, gründete die unterschiedlichsten Firmen, konnte meine Leidenschaft zum Beruf machen, wurde Mutter, war einmal im Scheidungsgericht und mehrmals im Fernsehen. Ich habe Fails initiiert und Erfolgreiches, gab als Nicht-Akademikerin Unterricht an Fachhochschulen und bin mittlerweile Profi im Umziehen, denn ich tat dies ganze 12mal (privat und geschäftlich) in dieser Stadt. Ich bin eine Optimistin und mag es nicht, wenn Menschen nörgeln und nichts dagegen tun. Mit Literatur und der ironischen Namensgebung «swissandfamous» hat mein unabhängiges Unternehmertum angefangen. Danach folgte die Crowd-Realität mit wemakeit und emotional Storytelling mit letsmuseeum. Dazwischen gab es noch so einiges das ich angepackt, initiert und umgesetzt habe. Mal erfolgreich, mal weniger. Ich bin gespannt, was noch so alles auf mich wartet. Ich bin ja erst 48, da steht einem die Welt noch offen, oder? Das sagen jedenfalls alle Ü50er, und die sollten es ja wissen.

Bethli Jaggi sagt:

Gut und spannend geschrieben

Leave a comment :