Gehen Sie öfters fremd.

Sie sehen, unsere Karrieren und unsere Erfolge sind eine Aneinanderreihung von Absichten, die man so nie hatte. Man wurde da wie eine Flipperkugel herumgeballert oder als Super Mario auf ein höheres Level katapultiert. Irgendwie war man, auch wenn man das nicht gerne zugibt, vom eigenen Ehrgeiz in Geiselhaft genommen worden. So sehr, dass man als bedeutungsvolles Mitglied der arbeitenden Gesellschaft nicht mehr aus dem Rampenlicht treten konnte. Man stand unter Beobachtung und war dem Schauspiel, das man selbst inszenierte, verpflichtet. Doch vor allen Dingen: man war nicht mehr frei im Kopf. Darum: Gehen Sie fremd.

 

Wenn Sie wollen, natürlich im eigentlichen Sinne. Aber das Fremdgehen, das ich meine, ist die gedankliche Flucht in andere Köpfe. In ein Alter Ego. Seien Sie einmal nicht sich selbst. Geniessen und betrachten Sie die Dinge um sich herum aus einer ganz anderen Perspektive, als eine andere Persönlichkeit und mit einem komplett anderen Hintergrund. Sie glauben ja gar nicht, wie befreiend man sich als ein anderer in der Welt bewegen kann.

Und wie interessant! Wenn Sie morgens – statt ein Gipfeli im Café um die Ecke – in der Avenue Montaigne in Paris ein Croissant in den Mund schieben und Sie kurz davor sind, sich als Vorführdame bei Christian Dior höchstpersönlich zu bewerben. Und zwar nicht heute, sondern 1951. Oder wenn Sie als Howard Hughes ins Tram steigen und die Luftfahrt statt das Züri-Netz erobern. Zu verschroben? Nun, dann entscheiden Sie sich für einen Philosophen oder einen Staatsmann. Allerdings nicht in den Momenten einer Krise, sondern eher in der Phase, wo man die Lorbeeren einsammeln kann, nachdem man ein grossartiges Lebenswerk hinterlassen oder ein richtungsweisendes Gesetz erlassen hat.

Und warum nicht einmal in einem Restaurant als Kaiser Augustus pinkeln gehen? Fühlt sich doch schon viel erhabener an, sich das enge WC als eine weitläufige Latrine vorzustellen, wo man mit den Senatoren in einer Reihe sitzt und sich darüber unterhält, wie die Germanen nun doch zu besiegen seien. Sieht ja keiner. Findet alles in Ihrem Kopf statt.

 

Genau jener Kopf, den Sie vielleicht gerade über meinen Vorschlag schütteln mögen. Aber glauben Sie mir, die Welt mit anderen Augen zu sehen, hat nicht nur eine erbauliche Seite, sondern auch einen ungemein hohen Erholungswert. Das ist wie in die Berge fahren. Dort oben, 3000 Meter über Meer und in Ihrem Kopf, blicken Sie anders auf die Niederungen des Alltags.

Und sollten Sie tatsächlich noch zu der raren Spezies gehören, die Tagebücher schreibt, dann ist nichts verlockender, als jeden Tag in einer anderen Zeit und als andere Person zu erleben. Wer weiss, vielleicht werden Sie dann noch zu einer schreibenden Grösse mit einer eigenen Kolumne in der Zeitung? Oder, was noch viel grossartiger ist, zu einem Blogger für «The Silver Magazine».

Gehen Sie fremd. Nichts bringt Sie näher zu sich als das.