Die Hoffnung auf die eigene Kindheit

Nichts geht über eine frisierte Biografie und anständige Erinnerungslücken. Es macht nicht nur unsere Kindheit, sondern auch unser Älterwerden schöner.

Beim Blick in die Vergangenheit erscheinen immer wieder die gleichen Plätze, das selbe Tageslicht (mit Vorliebe die Morgensonne) und vor allem die prächtigen Häuser unseres Dorfes mit ihren stuckverzierten Räumen. Auch wenn ich selbst zu Hause in einem alten Wirtshaus mit äusserst bescheidenen Räumlichkeiten aufgewachsen bin, scheinen diese barocken Paläste in Trogen für mich doch prägender gewesen zu sein. Ich verstand es schon in meiner Kindheit, mich in andere Realitäten zu flüchten und mir eine Umgebung zu wünschen, welche den Alltag erträglicher zu machen schienen. Und da ich mich in meiner Unsportlichkeit nicht auf meine Beine verlassen konnte, musste eben die Fantasie das Wegrennen übernehmen.

Ich bin überzeugt, dass dieses Fluchtbedürfnis in erfundene Welten und andere Wirklichkeiten meinen Willen nährten, nicht im Strom der Trivialität unterzugehen. Meine explizite Unbescheidenheit, mein perfektioniertes Hochstapeln in der Jugend und mein Erfindungsreichtum, wenn es um unmögliche Geschichten ging, halfen mir, die schweren Steine des Lebens weit zu werfen statt sie vor mir herzuschieben. Und wer sich selbst nicht grösser dachte, blieb stehen und wurde zum angepassten Langweiler. Schliesslich standen uns damals die Social Media zur Bewirtschaftung unserer eigenen Bedeutungslosigkeit noch nicht zur Verfügung.

Man musste ganz andere Ressourcen anzapfen, sich etwas weiter aus dem Fenster lehnen und seine eigene Lächerlichkeit in die Waagschale schmeissen. Dafür wurde man aber auch eher belohnt, erhielt mehr Aufmerksamkeit und konnte Chancen packen, welche nicht schon auf einem Bewerbungsstapel beim HR vor sich hin faulten.

Hoppla! Schon sind wir beim «Früher war alles besser» gelandet.

Das stimmt natürlich nicht. Doch genau dieses trügerische Narrativ nutzen wir, je älter wir werden, um die eigene Kindheit wieder aufleben zu lassen und zu feiern. Wir holen in der Regel nur die schönen Dinge aus der Mottenkiste, welche mit viel Weichzeichner, feinsten Gerüchen und herrlichen Geschmäckern auf der Zunge konnotiert werden. Wir fühlen die wohlige Wärme des Bades am Samstag vor der Muppet Show. Wir riechen das gefallene Laub des Kastanienbaumes neben dem Haus im Herbst. Wir schmecken den Nussgipfel vom Beck Willi noch heute auf der Zunge. Und wir spüren aufgeregt die kalten Zehen beim Schlitteln im Winter. Ja, wir versöhnen uns mit dem Leben, das uns zum Start geboten wurde.

Wir überhöhen unsere Kindheit, um den Wirklichkeiten der Gegenwart eine Folgerichtigkeit zu bescheren. Wir zwingen alle Puzzleteile ins Rechteck und erzählen allen, wie schön es doch in unserer Kindheit war. Wie es unser Leben komplettiert. Und es gibt uns Hoffnung, dass wir mit zunehmendem Alter diesen Zustand wieder erreichen werden. Darum beginnen wir schon mit knapp über Fünfzig, die Dinge nicht mehr so ernst zu nehmen, das Fremdschämen anderen zu überlassen und die eigene Lächerlichkeit als durchaus akzeptable Variable wieder zu pflegen. Plötzlich haben wir wieder den Narren an unserer Kindheit gefressen. Das macht uns irgendwie glücklich. Und das ganz zu Recht.