«Du bischd es chliises Gööfli met ere Schnodernase gsee.» Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt gewesen, hätte ich sie um einen Kuss gebeten. Und nachdem sie dieser Bitte nachkam und einen solchen auf meine Wangen drückte, hätte ich ihr erklärt, dass sie doch schon alt wäre und sie wahrscheinlich auch keinen Mann mehr bekommen würde. Ergo: «Hürotischd halt mi, denn muesch nüd truurig see.» Was für ein kleiner Romantiker!
«Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.» Mit dieser Zeile aus einem Gedicht von Hermann Hesse schmücke ich nicht nur geistreiche Gespräche – und auch weniger geistreiche –, sondern ich erfahre immer wieder, dass sie sich im Nachhinein bewahrheiten und bestätigen lässt. Erste Male bereichern uns ein Leben lang. Sie verklären und verzaubern zuweilen unsere Erinnerungen, aber sie machen uns auch reich, dankbar, wissend – und immer wieder neugierig. Wer Anfänge zu schätzen weiss, hat weniger grosse Angst vor den Enden einer Sache. Sei es eine Beziehung, ein umwerfendes Buch oder eine Serienstaffel bei Netflix.
Ich erinnere mich noch gut, als ich das erste Mal mit Tolstois «Krieg und Frieden» begonnen habe. Das war im Frühjahr 1991 im Garten meiner damaligen Wohnung. Unter einer mächtigen Blutbuche, welche heute leider nicht mehr steht, die aber damals mit ihrer Grösse und dem Lichtspiel der Sonne eine grandiose Kulisse zu diesem grossartigen Gesellschaftsroman bot. Ich habe das Werk insgesamt dreimal gelesen. Aber jedes Mal erinnere ich mich an das Gefühl der ersten Berührung mit Fürst Andrej, Natascha und dem unbeholfen, sensiblen Pierre. Und an die grosse Buche im Garten erinnere ich mich auch. Beides, Buch und Buche, sind für mich Heimat geworden.
Meine erste Gänseleber ass ich mit meinem Vater im Restaurant Sternen in Teufen. Das war an einem Mittwoch in den Siebzigerjahren. Damals, als ich ganze Nachmittage beim Augenarzt auf Untersuchungen zu warten hatte. Was musste das doch für ein guter Augenarzt gewesen sein, wenn er Patienten aus dem In- und Ausland stundenlang im Warteraum sitzen lassen konnte? Nachdem meine Untersuchung gemacht war, trottete ich, nun mit einem Kleber auf dem linken Brillenglas, zum Anker, der nur ein paar Schritte unter der Augenklinik lag und wo mein Vater in der Gaststube ebenfalls schon stundenlang auf mich warten musste. Doch er schien seine Wartezeit immer genossen zu haben. Das sagten mir nicht nur seine roten Äuglein, sondern auch die grossen Noten, die er der Serviertochter beim Bezahlen hinlegte. Drei Jahre Taschengeld, mindestens! Und weil mein Vater fand, ich hätte mir jetzt auch so etwas verdient, beschloss er spontan, dass wir im Sternen etwas essen sollten. So kam es, dass mir hier meine erste Gänseleber serviert wurde. Und hier kam ich überhaupt erst auf den guten Geschmack. Im Sternen, den es heute nicht mehr gibt, ass ich meine ersten Trüffel, mein erstes Chateaubriand sowie meinen ersten Matjeshering.
Erste Male können zur Offenbarung werden oder zu Ernüchterung führen. Sie können uns inspirieren, frustrieren, überraschen, langweilen oder einen «Chlapf an Grend» geben. Aber es lohnt sich immer, einen Anfang zu machen, etwas Neues zu erleben und die Komfortzone zu verlassen. Denn, wer einmal damit angefangen hat, erste Male wertzuschätzen, weiss, dass viel Neues und Unbekanntes schon immer in uns geschlummert hat. Dass das Fremde und Unbekannte uns viel weniger fremd sind, als wir es glauben möchten.
Mein erster Seeigel? Auf Samos. Nicht am Fuss, sondern auf dem Teller. Igitt!
Das erste Mal Paris? Unromantisch, bizarr und viel zu kalt. Aber ich habe mich sofort in die Stadt verliebt und bin ihr heute noch wie ein alter Liebhaber vollkommen ergeben.
Das erste Mal mit Tom Ripley jemanden ermorden? Was für ein spektakuläres Leseerlebnis, das unsere Ängste immer wieder aufs Faszinierendste bis in die Tiefen unserer Seele auslotet.
Mein erstes veganes Nachtessen? Schon wieder vergessen.
Mein erster grosser Lohn? Noch nie wurde Geld so köstlich verschwendet.
Meine ersten Schuhe von Charles Jourdan? Ich war ja der Zeit so was von voraus, dass es die Herrenschuhe dieser Marke schon gar nicht mehr gab, als ich mich auf den Rückweg machte.
Wie Sie sehen, liebe Leserinnen und liebe Leser, die Pflege der ersten Male ist eine lustvolle Sache durch und durch. Und sollte ein erstes Mal so richtig nicht gelungen sein, dann glauben Sie mir, aus schlechten Erfahrungen werden meistens die besten Geschichten geschrieben. Wenn man es sich selbst erlaubt, nicht immer alles im Griff zu haben, oder über alles Bescheid zu wissen. Wenn man den Anfänger in sich zulässt. Wenn man sich nicht vor Naivität scheut und auch Dinge tut, die man bei anderen schon lange unter alternative Begabungen abgebucht hätte. Das macht uns vielleicht zu jungen Kälbern, die blindlings auf die saftige Wiese springen, um den grossen und kleinen Abenteuern entgegenzublinzeln. Aber was kann uns schon passieren? Ein Bär oder ein Wolf? Ich bitte Sie! Die sollen mich mal kennenlernen.